An jemanden denken, sich ihn oder sie vorstellen und überlegen: Was kann ich, will ich, was muss ich ihm/ihr mitteilen? Ein Blatt, ein großes oder ein kleines, auswählen, vor mich auf den Tisch legen, einen Kugelschreiber oder gar einen Füller herausnehmen und anfangen: Liebe/Lieber ... Dann schreiben, eine Seite, zwei oder mehr, sich etwas einfallen lassen. Schließlich nach ein oder zwei Stunden abschließen, falten, in einen Briefumschlag stecken, Adresse und Absender sorgfältig draufschreiben, Briefmarke heraussuchen, ablecken und aufkleben, dann am besten gleich zum nächsten Briefkasten oder gar zur Post bringen - ja, und dann warten, warten, einen Tag, nein, da kann ja keine Antwort kommen, auch nicht nach zwei oder drei Tagen, aber ab dem vierten Tag könnte doch wirklich eine Antwort kommen!!?
Ich gebe zu, zwei ganze Briefe habe ich dieses Jahr vielleicht geschrieben, heute kommuniziere ich auch eher per Telefon, per SMS, per e-mail das ist auch schön, zumal wenn man weiß, dass das Geschriebene sofort ankommt und gelesen und beantwortet werden kann, manchmal sogar unmittelbar beantwortet wird!
Es war eine andere Zeit, als noch Briefe geschrieben wurden. Manche Briefsammlungen - unendlich!
Vor einigen Jahren fand ich in einem Schuhkarton einen kompletten Briefwechsel: ja den "Wechsel", Brief und Retour, Brief und Retour. Ich las, las und immer mehr stieg mein Interesse, weil in den mehr oder weniger langen Briefen meiner jetzigen Frau und mir eine ganze Epoche in unserem Leben, im Leben überhaupt gegenwärtig wurde. Es waren die Briefe, die wir wechselten, als ich 1965 - einige Monate vorher hatten wir uns bei den Prüfungen in Philosophie und Pädagogik "angenähert" - für ein Jahr nach Paris ging. Als ich alle in den Computer geschrieben hatte, waren es 175 Stück (in 1 Jahr!) und füllten nahezu 350 Seiten; ich machte daraus ein Buch und ließ es in Grimma bei Leipzig drucken - zu unserem 40. Hochzeitstag lag es vor. Hier einige Kostproben:
1 München, Mai 1965
(ohne Adresse und Datum)
Bonjour, Mademoiselle,
ich
bin untröstlich; was nicht sein darf, könnte doch eigentlich gar nicht sein,
und doch habe ich gestern keine Karten für die Kammerspiele bekommen. Ich weiß
auch nicht, was man da als Ersatz nehmen könnte. Dennoch würde ich mich sehr
freuen, Sie heute Abend auf eine Stunde bei mir zu sehen.
Der Mai ist gekommen, die Bäume usw.
mit herzlichem Gruß Johannes
2 München,
Veterinärstr. 9, den 22.6.65
an Mlle Hildegard S., München 13,
Schleißheimer Str. 278, Kinderheim St. Josef
an Mlle Hildegard S., München 13,
Schleißheimer Str. 278, Kinderheim St. Josef
Du,
lebst
Du noch hinreichend? Dort jenseits der Hügel, in der Nähe des Bades, unter der
Sonne und großen Gewittern, in der Unzugänglichkeit der Gralswelt – unserer
Welt aus Form, Farbe und – tieferer Bedeutung. Bist Du auch – nein, wohl nicht
– bei einem Glas Wein und Winston? Ich dachte daran, in die Pinakothek zu gehen
endlich, aber ich bin zu müde von dem großen Spaziergang heute Nachmittag;
jetzt komme ich zu Dir, Dir nahe zu sein, willst Du? Dich mit meinen geistigen
Händen zu halten; ob Du da offener, reifer bist? Beides muss doch von einem Punkt ausgehen, oder nicht? Wenn
ich Dich sehe, jetzt z.B., habe ich ja auch vor mir: die schönen vielen Haare,
die leichte einfache Gestalt, das Gesicht und, schon ins Innen führend, die Augen
(blau oder grau?!), den Ausdruck des Gesichts, die Gesten beim Sprechen, das
Geistige im Körper sichtbar, die Worte – das alles: Du. Das alles sehe ich,
lerne es kennen ohne besondere Examina und Fragen und habe es, habe Dich… ich
sag es Dir! Aber Du? Mais il faut avoir patience, n’est-ce pas, si tu te
tiendras ouverte au moins.
Bonne nuit
De ton Jean-Baptiste
prêchant
Paul Verlaine
La lune blanche
Luit dans les bois
De chaque branche
Part une voix
Sous la ramée…
Ô bien aimée.
L’étang reflète,
Profond miroir,
La silhouette
Du saule noir
Où le vent pleure…
Rêvons : c’est l’heure
Un vaste et tendre
Apaisement
Semble descendre
Du firmament
Que l’astre irise…
C’est l’heure exquise.
Ô que sont douces
ces lignes courbées
autour de la mousse
de ton arrivée
(nach München, Schleißheimer Str.)
Liebe Hildegard, Du
Da
bin ich – nach einer langen verdämmernden Nacht, verschlafen – im trauten Heim,
gegenüber Pieter Breughel. Und Du, bist jetzt (9 Uhr) ja wohl schon längst auf,
sitzt in tiefen Gedanken am Tisch, umgarnt von Büchern etc. und machst Deinen
Plan. Ich möchte so gerne sehen, wie Du ausschaust, Du.
Hier zu Hause war die Überraschung groß und ebenso die Freude und heute
Nachmittag steigt zu meinen Ehren - eine große Kartoffelausmachaktion! Ich muss
deshalb noch schnell zum Bahnhof und zur Bank und eilig noch etwas ins Bett,
damit ich mittags fit bin. Bist Du auch so eifrig? Ich wünsche Dir jetzt
wirklich und rechtzeitig, hoff ich, zum Geburtstag alles, was die gute Liebe
nur wünschen mag: Alles - fürs erste ein gutes Examen natürlich und dann auch
ein wenig ruhiges Glück
Auf Wiedersehen bis morgen. - Au revoir à Paris
Dein
Johannes
Warum kann so ein Brief nicht sofort jetzt vor dir liegen!