Ciao!

Ich freue mich, dass Sie meine Seite gefunden haben.
Ob sie beim Lesen Freude macht, weiß ich nicht,
es kommt darauf an.
Ich wünsche jedenfalls ein erholsames Betrachten.
Wenn Sie sich äußern möchten, schreiben Sie eine Mail.

Ἦρος ἄγγελος ἱμερόφωνος ἀήδων
Sappho 6.Jh.v.Chr. (Des Frühlings Botin mit sehnsuchtsvoller Stimme die Nachtigall)

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Briefe, lettres, γράμματα

Ja, Briefe? Wann hast Du, lieber Leser, zuletzt einen Brief geschrieben?
An jemanden denken, sich ihn oder sie vorstellen und überlegen: Was kann ich, will ich, was muss ich ihm/ihr mitteilen? Ein Blatt, ein großes oder ein kleines, auswählen, vor mich auf den Tisch legen, einen Kugelschreiber oder gar einen Füller herausnehmen und anfangen: Liebe/Lieber ... Dann schreiben, eine Seite, zwei oder mehr, sich etwas einfallen lassen. Schließlich nach ein oder zwei Stunden abschließen, falten, in einen Briefumschlag stecken, Adresse und Absender sorgfältig draufschreiben, Briefmarke heraussuchen, ablecken und aufkleben, dann am besten gleich zum nächsten Briefkasten oder gar zur Post bringen - ja, und dann warten, warten, einen Tag, nein, da kann ja keine Antwort kommen, auch nicht nach zwei oder drei Tagen, aber ab dem vierten Tag könnte doch wirklich eine Antwort kommen!!?
Ich gebe zu, zwei ganze Briefe habe ich dieses Jahr vielleicht geschrieben, heute  kommuniziere ich auch eher per Telefon, per SMS, per e-mail das ist auch schön, zumal wenn man weiß, dass das Geschriebene sofort ankommt und gelesen und beantwortet werden kann, manchmal sogar unmittelbar beantwortet wird!

Es war eine andere Zeit, als noch Briefe geschrieben wurden. Manche Briefsammlungen - unendlich! 
Vor einigen Jahren fand ich in einem Schuhkarton einen kompletten Briefwechsel: ja den "Wechsel", Brief und Retour, Brief und Retour. Ich las, las und immer mehr stieg mein Interesse, weil in den mehr oder weniger langen Briefen meiner jetzigen Frau und mir eine ganze Epoche in unserem Leben, im Leben überhaupt gegenwärtig wurde. Es waren die Briefe, die wir wechselten, als ich 1965 - einige Monate vorher hatten wir uns bei den Prüfungen in Philosophie und Pädagogik "angenähert" - für ein Jahr nach Paris ging. Als ich alle in den Computer geschrieben hatte, waren es 175 Stück (in 1 Jahr!) und füllten nahezu 350 Seiten; ich machte daraus ein Buch und ließ es in Grimma bei Leipzig drucken - zu unserem 40. Hochzeitstag lag es vor. Hier einige Kostproben:



 

1                                München, Mai 1965

(ohne Adresse und Datum)
Bonjour,  Mademoiselle,
                                 ich bin untröstlich; was nicht sein darf, könnte doch eigentlich gar nicht sein, und doch habe ich gestern keine Karten für die Kammerspiele bekommen. Ich weiß auch nicht, was man da als Ersatz nehmen könnte. Dennoch würde ich mich sehr freuen, Sie heute Abend auf eine Stunde bei mir zu sehen.
Der Mai ist gekommen, die Bäume usw.
          mit herzlichem Gruß                           Johannes


2                               München, Veterinärstr. 9, den 22.6.65
an Mlle Hildegard S., München 13,
Schleißheimer Str. 278, Kinderheim St. Josef
Du,
                                 lebst Du noch hinreichend? Dort jenseits der Hügel, in der Nähe des Bades, unter der Sonne und großen Gewittern, in der Unzugänglichkeit der Gralswelt – unserer Welt aus Form, Farbe und – tieferer Bedeutung. Bist Du auch – nein, wohl nicht – bei einem Glas Wein und Winston? Ich dachte daran, in die Pinakothek zu gehen endlich, aber ich bin zu müde von dem großen Spaziergang heute Nachmittag; jetzt komme ich zu Dir, Dir nahe zu sein, willst Du? Dich mit meinen geistigen Händen zu halten; ob Du da offener, reifer bist? Beides muss doch von einem Punkt ausgehen, oder nicht? Wenn ich Dich sehe, jetzt z.B., habe ich ja auch vor mir: die schönen vielen Haare, die leichte einfache Gestalt, das Gesicht und, schon ins Innen führend, die Augen (blau oder grau?!), den Ausdruck des Gesichts, die Gesten beim Sprechen, das Geistige im Körper sichtbar, die Worte – das alles: Du. Das alles sehe ich, lerne es kennen ohne besondere Examina und Fragen und habe es, habe Dich… ich sag es Dir! Aber Du? Mais il faut avoir patience, n’est-ce pas, si tu te tiendras ouverte au moins.

Bonne nuit
De ton Jean-Baptiste prêchant
Paul Verlaine
La lune blanche
Luit dans les bois
De chaque branche
Part une voix
Sous la ramée…

Ô bien aimée.
L’étang reflète,
Profond miroir,
La silhouette
Du saule noir
Où le vent pleure…

Rêvons : c’est l’heure
Un vaste et tendre
Apaisement
Semble descendre
Du firmament
Que l’astre irise…
C’est l’heure exquise.
Ô que sont douces
ces lignes courbées
autour de la mousse
de ton arrivée




                                 (nach München, Schleißheimer Str.)

Liebe Hildegard, Du

                                 Da bin ich – nach einer langen verdämmernden Nacht, verschlafen – im trauten Heim, gegenüber Pieter Breughel. Und Du, bist jetzt (9 Uhr) ja wohl schon längst auf, sitzt in tiefen Gedanken am Tisch, umgarnt von Büchern etc. und machst Deinen Plan. Ich möchte so gerne sehen, wie Du ausschaust, Du.

Hier zu Hause war die Überraschung groß und ebenso die Freude und heute Nachmittag steigt zu meinen Ehren - eine große Kartoffelausmachaktion! Ich muss deshalb noch schnell zum Bahnhof und zur Bank und eilig noch etwas ins Bett, damit ich mittags fit bin. Bist Du auch so eifrig? Ich wünsche Dir jetzt wirklich und rechtzeitig, hoff ich, zum Geburtstag alles, was die gute Liebe nur wünschen mag: Alles - fürs erste ein gutes Examen natürlich und dann auch ein wenig ruhiges Glück

Auf Wiedersehen bis morgen. -                   Au revoir à Paris
                                          Dein Johannes
Warum kann so ein Brief nicht sofort jetzt vor dir liegen!

Dienstag, 28. August 2012

Naziaufmarsch in Bensheim - am vergangenen Samstag kam es zu einem Aufmarsch einer Gruppe von ca 40 Nazis; sie zogen mit Transparenten und Fahnen durch die Bensheimer Fußgängerzone - ohne jeglichen Widerstand. Ich erfuhr davon in der Zeitung am Montag und schrieb sofort einen Leserbrief; da er heute noch nicht veröffentlicht wurde, stelle ich ihn hier im Blog aus:


Ich schäme mich
Leserbrief  zum Artikel „Aufmarsch von Neonazis“ im BA vom 27.8.12
Ich schäme mich für die Stadt Bensheim, dass am Samstag eine Nazi-Gruppe vom Bahnhof zur Hauptstraße und weiter durch die ganze Fußgängerzone ziehen konnte, ohne dass von der Stadt oder von demokratischen Parteien und Organisationen irgendein Widerstand deutlich wurde. Lediglich die Polizei war von der Stadt  als Begleitung der Nazis durch die Stadt organisiert.
Dass Stadtrat Adil Oyan noch im Urlaub weilte, ist keine Entschuldigung, denn wo war zum Zeitpunkt der Antragstellung der Bürgermeister, wo waren andere Magistratsmitglieder?  Aber  Adil Oyan meint ja ohnehin: „Es gab aber keine rechtliche Handhabe, die Kundgebung abzulehnen.“ Es ist wirklich schrecklich und beängstigend, wenn man sieht, was in der vergangenen Woche in Nordrhein-Westfalen bei der Razzia ans Tageslicht kam: nicht nur reichlich schriftliches Material auch mit deutlichen Verknüpfungen zur „rechtlich zugelassenen“ NPD sondern auch jede Menge Waffen; und dann gibt es  keine „rechtliche Handhabe“ diese Aktionen zu verbieten? Die Stadt, die ja vor einigen Jahren die „Bensheimer Erklärung gegen rechtsextreme Aktionen“ beschlossen hat,  hätte damit wenigstens ein Zeichen gesetzt, auch wenn häufig die Gerichte diese Verbote mit formalen, politisch unzutreffenden Argumenten, wieder aufheben. Eine aktuelle Begründung wäre hier z.B. gewesen, dass am Samstag in der Fußgängerzone zwei politische Kundgebungen, die schon lange angemeldet waren, stattfanden: eine von der CDU und eine von der GLB.
Ich schäme mich persönlich, wenn ich mir klar mache, dass ich an einer der beiden Veranstaltungen längere Zeit teilnahm, während an anderer Stelle die Nazis sich auf ihren Marsch vorbereiteten. Allerdings wusste ich selbst zu diesem Zeitpunkt nichts von dem, was der Stadt bevorstand. Die Anmeldung des Naziaufmarschs hätte doch sofort aus dem Rathaus in die Öffentlichkeit  gelangen müssen, um zumindest einen spontanen Widerstand mobilisieren zu können; schließlich hätten die GLB und die CDU bei ihren Veranstaltungen vor der Faktorei spontan zu Aktionen gegen den Aufmarsch der Nazis aufrufen müssen. Es gibt kaum Städte in Ost- oder Westdeutschland, in denen heute solche Aktionen mitten in der Stadt unbehelligt stattfinden können. Was muss denn noch passieren, bis sich die Verantwortlichen, ich meine damit die politischen Vertreter ebenso wie alle Bürger, mich eingeschlossen, diesen Herausforderungen und dieser Bedrohung der Demokratie adäquat stellen?
                                                                   Dr. Johannes Kraemer, Postgasse 4

Montag, 16. Juli 2012


9 Gedichte
Aus neueren Tagebüchern



Voll Leben
herum lungern,
frei schweben,
hier und da
hin schauen,
zugreifen,
eingreifen und weg,
planlos.
 

Kap Arkona
Um uns
ganz normales Land
ohne Regung
Felder mit Sanddorn
Baumgruppen
im Herbst
nur der Wind drängt 
- aber schon
wächst das Rauschen
vom Meer
und über den Wellen
     - Möwen –
in all ihrer Bedeutung
stehen im Wind
fallen mir ein
parallel zum Horizont.




Paul Verlaine, Poèmes saturniens (p.141)
    Wie blau war er, der Himmel, und wie groß die Hoffnung.
    Die Hoffnung floh, überwältigt, zum schwarzen Himmel.

   So liefen sie durch die schwankenden Haferfelder
   Und nur die Nacht hörte ihr Reden.



  Gipfel –

die Angst
zu versagen
vorher
danach
(betretenes Schweigen)
schweigsam
beim Abstieg
es nicht geschafft zu haben
den winzigen Schritt
zwischen
Ich – Nicht - Ich
Sein und Nicht-mehr-sein
Stattdessen
sorgsam gesetzt
den sichern Schritt
damit man sich nicht stoße
zwischen die Steine
in die geschenkte Zeit.



Angst

nur zu denken –
das Tor
öffnet sich lautlos
ganz lautlos
schieben sich die Flügel
und
ein tritt
das Schreckliche
unausweichlich
-alltäglich.





 Aufstehen
Lass deine Hände am Morgen
   eine Weile frei im Raum spielen
wirf einen Blick ungezwungen durchs Fenster
   einen Ausschnitt deies Alltags
bring ein paar Töne zum Klingen
   und Verse Worte unverrückbar
mit warmer Hand gesetzt
   lassen ein Bild zurück
               - atmen
             aufatmen.



  Traum von Wirklichkeit

Man meint es sei  so
der Boden sei fest
er trüge dich
die Mauern stünden auf Dauer so
das Haus hier schütze
die Wände wärmten
die Verhältnisse
- immerhin erträglich
      
          aber

wenn nun der Boden nur Papier wäre
die Mauern zerfielen
einfach so
auch ohne Trompetenstöße
das Haus in Staub fiele
die Wände zerstieben
die Verhältnisse sich lösten?

Nackt und frierend
im Leeren
bleibst Du.


     Momente

schöner grauer Julitag
Regen prickelnd nass und kalt
aber der große Ofen wärmt
aus zwölf Saiten
sprudelt romantische Musik
da murrt es sich so herrlich
wenn „ein starker Duft
von Nachtviolen und Rosen…“
   geh nur nach Haus, Julie,
   Du findest dort:
   das kalte Grau
   birgt den dunklen süßen
         Mandelkern –
Dort lass dich ein. *
*Zitat aus E.T.A.Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murr

      Musik

Wenn um mich herum
sogar die Mauern
etwas nachgeben
auf einmal
und der Boden schwankt

Oh, welche Chance!
Jetzt ist es besser rot
ja, auf rotem Papier zu schreiben
das trägt und schwillt
    fliegt davon

Nächtens geht es fester
in einem andern Raum
in der anderen Zeit
treibt mich die Sehnsucht
          unglaublich
jetzt im Spätherbst

Nur die Stimmen hören
einfach die Stimmen nur
- jetzt dringen  sie ein
in der Nacht
in der Stille des Wassers
zieht es hinab
in die Dunkelheit