Im Flugzeug in München, 31.12.89
Da bin ich - nach langer Erwartung, wie immer sehr unbestimmt und in
den letzten Tagen eher Angst - vor allem in den Nächten: der Innenraum des
Flugzeugs - ich lasse mich auf etwas ein, wo ich nicht aussteigen kann. Es wird
eng hier in dem langen niedrigen Raum,
so viele Menschen gedrängt - heute Morgen, noch mitten in der Nacht nach
dem Abschied von Hille - warten, ruhig im Flugzeug vorn in der 3.Reihe, das war
angenehm - kurze Anspannung beim Aufsteigen - schnell über die Wolkendecke,
aber darüber nichts, kein Blick auf die Ebene, den Odenwald. Kurz vor München
wurde es im Osten über dem Wolkenmeer etwas hell. Jetzt zum zweiten Start; die
beiden Frauen neben mir haben die Augen geschlossen - ob man so besser
übersteht? Meine Gefühle sind sehr zurückhaltend - abwarten, nicht viel denken.
Im Warteraum eben ein Mann mit siebenjährigem Sohn, Iraner, wir sprachen
italienisch.
Es ist auch schön, ja, jetzt über den Alpen, leider sind die Fenster
sehr klein und da ich wegen meiner Phobie am Gang sitzen muss, schaue ich
rechts und links jeweils über zwei Nachbarinnen. Bei 850km/h und einer Höhe von
9000m ändert sich das Bild nur allmählich, nur wenn sich das Flugzeug zur Seite
neigt, schaut man tief nach unten. Störend ist das geschäftige Treiben im
Flugzeug - schon wieder Frühstück und Kaffee und zollfreies Einkaufen. Über
Jugoslawien ein ganz anderes Bild: langgezogene Grate und Senken mit Nebel.
Sarajewo. Saloniki. Nordgriechenland. Ein Wolkenmeer unter der Sonne wie ein
riesiges Schneefeld - nur der Olymp ragt darüber hinaus. Als wir in Athen
landen, bekreuzigt sich eine ältere griechische Frau.
Gegen Abend, mein erster griechischer Kaffee in der Plaka. Es ist kalt
und ich glaube, dass ich den Jahreswechsel erst diesmal überschlafe.
1.1.90
Es ist kalt - ich wollte erst gar nicht aus dem Bett, wollte weg sein.
Der Himmel ist grauschwarz, aber dann ging ich doch los, durch menschenleere
Gassen. Aus einer kleinen Kirche wurden Gesänge mit Lautsprechern auf die
Straße übertragen. An der Agora vorbei zur Pnyx. Ob die alten Athener hier auch
bei solchem Wetter ganztägige Volksversammlungen abhielten? Ich stieg nicht auf
den Philopapposhügel, weil es mir zu kalt war und die Aussicht zu trübe. Im
Schutz des Hügels war es wärmer. Ich ging also in Richtung zum Meer, zum Piräus
- zuletzt noch, weil es sich doch wider Erwarten endlos hinzog durch kahle
Straßen, mit Bus nach einem „Gespräch“ mit einer älteren Frau an der
Haltestelle. An den Bäumen hängen Orangen - kaum zu glauben. Olivenbäume, Eukalyptus
u.a. Im Hafen an der Aktí Miaoúli lagen Riesenfährschiffe mit offener Einfahrt
wie schwimmende Parkhäuser. In einem Café lauter dunkle Männer, ein
griechischer Kaffee und Musik - das tat mir gut.
2.Januar
In der Athinas-Straße |
abends
Die Nachmittagswanderungen sind anstrengend, gegen fünf wird es
dunkel, auf den breiten Straßen herrscht ein Wahnsinnsverkehr. Gestern Abend
ein Fahrradfahrer, ohne Licht, mittendrin - bei uns ein Todeskandidat. Ich
laufe von der Uni zur Straße des 28.Oktober, weit hinaus, und die Straße des
3.September zurück - zwischendurch eine Tiropitta und - daran konnte ich nicht
einfach vorbeigehen - eine Crèpe au sucre, me zacari). Dieses Viertel ist
mondäner, mit vielen großen Geschäften, Buchläden und auch einem Musikgeschäft
mit Noten - z.Zt. alles geschlossen, aber später - und dann heute auch einige
Kinos, was ich gestern vergeblich suchte. Dafür fand ich etwa sechs kleine
Theater; bei meinen geringen Sprachkenntnissen schien mir das jedoch eine
Verschwendung - vielleicht nächste Woche.
Heute bin ich hier im Asty einen polnischen Film sehen: Μικρή ερωτική ιστορία, von Kislοfski, nach dem Publikum zu urteilen, das
eben herankommt, sicher ein guter Film, ich hoffe, dass ich etwas verstehe. Ein
lyrischer Film ohne viele Worte, und die in Polnisch, griechisch untertitelt -
das ist gut für Anfänger mit einem Hang zur Schrift; ein griechischer Kurzfilm
am Anfang war schon viel schwieriger. Gestern, als im Bus vom Piräus nach Athen
ein alter Mann rauchte, hielt der junge Busfahrer an und ließ eine Schimpfsalve
auf ihn los, kaum eine Sekunde lang - das wirst du nie verstehen diese Sprache,
dachte ich. Der Film hat mich sehr betroffen und wohl nicht nur mich - als wäre
es eine Geschichte aus meinem Leben - danach ging mir eins von den
südamerikanischen Liedern, die ich mit Susanne spiele, nicht mehr aus dem Kopf.
Eben las ich mein römisches Tagebuch - sehr intensive Erinnerung an
einzelne Wanderungen - da wankte mein Stuhl, der Boden - ein furchtbarer
Schreck! Im fünften Stock eines wohl nicht sehr soliden Hauses! So hatte ich
das noch nie erlebt. Ich konnte nicht bleiben, zog mich wieder an und ging.
Unten in der Bar und in der Rezeption hatte niemand etwas merken wollen - ich
ging einige Zeit durch die Straßen und trank dann in der Bar einen Kaffee - ich
muss die Angst verdrängen, wie schon im Flugzeug.
Donnerstag,
3.Januar
Immer bin ich noch zuerst enttäuscht, wenn mir einer „nä“(ναί) sagt,
dann erst schalte ich und merke, dass meine Frage bejaht, meine Bitte nicht
abgeschlagen wurde. Die Nacht habe ich überstanden, wenn auch schlecht - in den
Zeitungen standen übrigens doch große Berichte über das Erdbeben abends mit
Stärke 5 auf der Richterskala.
Das Frühstück habe ich verpasst, meine Uhr ging nach - kein guter
Anfang, vor allem für eine so gewaltige Unternehmung wie den Besuch des
Nationalmuseums den ganzen Tag. Jetzt sitze ich im Café des Museums, nachdem
ich das Erdgeschoss durchwandert habe.
Da ist auch der Krater, den ich so oft kopierte: Prothesis einer
jungen Frau mit Trauernden – dahinter sind zwei Reiter und Männer des
Trauerzugs (etwa 80cm). Einen Brautzug habe ich noch nicht gefunden, aber vom
Ende des 5.Jh. gibt es mehrere Darstellungen auf Loutrophoren und Lebes.
Ich versuche, die Straße zur Akademie zu gehen. Die Straße ist eine
Fußgängerstraße, neu angelegt. Auf einem anderen Hügel sehe ich eine
byzantinische Kirche, es ist die Kirche des hl. Milianós, 1953 erbaut, mit Bruchstein und die Architekturformen
mit Backstein.
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