.... Dann sah ich dort
in der Schublade noch ein Kästchen, nahm es heraus und fand darin alte Briefe und Fotos von
Irmgard u.a. und dabei war auch ein Brief von mir in München, Engadiner Staße
2/4 an Frau Hille Krämer-Schrieber, in Düsseldorf-Nord, Amsterdamer Str.27
Poststempel am 23.11.1969. Es sind 4 Blätter in Postkartengröße:
(1) „Du
Liebe, nach getaner Arbeit! will ich Dir bei den kräftigen Gesängen der Mahalia
[Jackson] ein wenig schreiben. Die Arbeit bestand darin, den Rotkohl
aufzusetzen, genau nach Vorschrift, jetzt dünstet er, das mach Spaß im Jenatopf
– ich habe nur leider etwas zu spät das Wasser drauf gegossen, so daß die
Zwiebel etwas angebrannt roch – ich hoffe aber, dass es nicht so schlimm ist,
ich mache mir dann nachher ein Schnitzel dazu und heute Abend soll Hildegard
und Eugen das Pfund Hackfleisch zu Fleischpflanzerln verarbeiten – ich hoffe
nur, dass ich nicht die ganze Woche davon essen muß. Du siehst, für das
Leibliche ist gesorgt, aber doch spüre ich, wie wir, Du und ich, auch auf
dieser äußerlichen Ebene schon ganz zusammengewachsen sind, daß das Kochen und
Essen und überhaupt der Haushalt viel schöner ist, wenn Du da bist, auch wenn
mir das keine technischen Schwierigkeiten bereitet – es muss wohl einfach daran
liegen, daß ich Dich und Du mich ganz lieb haben und daß das Essen immer noch
am besten mir Kußnelken und Streichelblättern, die um Deine Liebesäpfel
wachsen, gewürzt wird.
(2) Ich
war die letzte Woche sehr aktiv, was jedoch manchmal zu allgemeinen
Depressionen führte, da ich keine Ruhe und keine konzentrierte Arbeit hatte. Im
Schulungskurs am Montag und Donnerstag und auch auf dem Dipl haben wir eine
Rückbesinnung versucht auf die grundlegenden Methoden der Marxschen Kritik im
Unterschied zur bürgerlichen Ökonomie. Dies war nötig geworden, weil in der
letzten Zeit die Gefahr bestand, dass wir uns in ökonomischen Details
verlieren. Ich habe dazu in Deinem Marcuseband 2 einen guten Aufsatz
gefunden:“Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen
Arbeitsbegriffs“, wo von der Philosophie her (Hgel, Marx)kritisiert wird, daß
die bürgerlichen Ökonomen den Begriff der Arbeit rein auf die wirtschaftliche
Tätigkeit und weiter auf die Lohnarbeit beschränken, ohne nach ihrem Wesen und
ihrer Stellung zum menschlichen Dasein überhaupt zu fragen. Indem Hegel und Marx
in der Arbeit einen notwendigen Akt der Selbstverwirklichung, der
Selbstvergegenständichung definieren, gewinnen sie die Möglichkeit, das
Phänomen der Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise zu kritisieren,
was von der bürgerlichen, ökonomischen Begriffsbestimmung her überhaupt nicht
mehr möglich ist.
(3) Am
Freitag um 13.00war ich noch auf eine Teach-in von der Projektgruppe
„Technologie“ in der TH. Anlaß war Prof.
Bauer von der TH, der an der Planung eines Forschungsinstitutes beteiligt ist,
das vom Wissenschaftsrat der NATO angeregt wurde. Prof. Bauer war selbst
erschienen und demzufolge war der Saal übervoll von seinen „technokratischen“
Anhängern. Am Anfang gab es gleich eine
kolossale Lächerlichkeit, als der Professor, da er einfach mit „Herr Bauer
angeredet wurde, erklärte, er werde sofort den Saal verlassen, wenn er nicht
mit „Professor“ angeredet wurde!! Als dann einer vonder Projektgruppe darauf
hinwies, daß die Forschung des zu gründenden Instituts, auch wenn es nicht
direkt militärische Forschung betreibe, dennoch zu militärischen Zwecken
verwandt wird, riefen die Technokraten: „Na und?“
Ich bin daraufhin gegangen, weil die
Situation mir aussichtslos erschien.“
(4) Jetzt
habe ich meine Mittagessen hinter mir, der Rotkohl ist ausgezeichnet, auch das
Schnitzel mit Zwiebeln. Dann habe ich in lieber Gewohnheit ,nach dem
Sonntagsessen im Radio das Märchen gehört „Vom König Knakkerkunk“, der nicht
regierte und nur den ganzen Tag auf seinem Thron saß, weil dort die weichsten
Kissen waren; dort schlief er immer und wollte nicht, daß seine Tochter
heiratete, bis er durch das Gespenst Knobbepiets dazu gebracht wurde, der
Hochzeit der Prinzessin mit ihrem lieben Gärtnerbursch zuzustimmen – ich habe
dazu in meinem Hausschlafanzug auf dem Bett gelegen, d.h. eigentlich war es
Deiner, mit den blauen Punkten – gestern Abend, als ich das Bett machte, war
ich so gedankenlos (oder??), daß ich zwei Kopfkissen nebeneinander am Kopfende
hinlegte ojeh – gerade wollte ich eine Platte auflegen, da ist mir die Nadel
rausgefallen – jetzt weiß ich auch, wie man sowas einsetzt. – Jetzt will ich
Schluß machen, draußen wird es immer nebliger, so als wären wir am Rhein, und
ich mummle mich so richtig in die Zimmerwärme – das darf ich doch!? in der
Woche bin ich ja wieder immer unterwegs. Grüß Dich , ganz Liebe, und auch Deine
beiden Kranken – Hoffentlich geht es Deiner Mutter bald besser –
Jetzt muß ich mich doch anziehen und
will den Brief für Dich runterbringen, daß du siehst, wie ich Dich lieb habe
Dein
ganzer Mann
wie klein auch
immer