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Ἦρος ἄγγελος ἱμερόφωνος ἀήδων
Sappho 6.Jh.v.Chr. (Des Frühlings Botin mit sehnsuchtsvoller Stimme die Nachtigall)

Platon und die Musen

DIE STELLUNG DES MUSISCHEN IM PHILOSOPHISCHEN UND

POLITISCHEN DENKEN PLATONS



Inaugural - Dissertation zur Erlangung des  Doktorgrades der 
Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München
vorgelegt von

Johannes Krämer, Saarlouis


Referent:   Kurt von Fritz
Korreferent:  Helmut Kuhn
Tag der mündlichen Prüfung:  11. 7. 1969




Δεῖ δέ που τελευτᾰν τὰ μουσικά εἰς τὰ τοῦ καλοῦ ἐρωτικά.     (Platon. Rep.403c)
(Das Musische muss aber wohl letztlich zur Liebe des Schönen führen)

Inhaltsverzeichnis



EINLEITUNG

System und Widerspruch


In der Literatur, die sich mit dem Problem der Dichtung bei Platon beschäftigt, taucht immer wieder die Frage auf, ob man von einer platonischen Kunsttheorie, einem System der Ästhetik sprechen könne, oder ob sich zumindest so viele Elemente finden lassen, dass man ein System daraus konstruieren könne. Wenn wir nun die Äußerungen Platons in ihrem jeweiligen Zusammenhang untersuchen, stellen wir fest, dass von einem System in keiner Hinsicht die Rede sein kann. Aber die Frage ist grundsätzlicher zu stellen. Leibniz schreibt in einem Brief an Nicolas Remond vom 11. Februar 1715: "Si quelcun reduisoit Platon en systeme, il rendroit un grand service au genre humain, et l'on verroit que j'y approche un peu."[1] Diese Tendenz, einen Gegenstand zu systematisieren, ist nun zwar eine Eigenart der wissenschaftlichen Methode und äußerte sich in der Geschichte der Platonforschung immer wieder in Versuchen, eine platonische Ontologie, eine Erkenntnistheorie, eine Ethik usw. aus seinem Werk herauszukristallisieren;[2]  gerade bei Platon zeigt sich aber, dass diese Methode der Eigenart seines Philosophierens nicht gerecht wird.

Platon definiert am Ende des 6. Buches der Politeia (510 b -11 d) die Aufgabe der Philosophie, indem er sie von den mathematischen Wissenschaften abgrenzt, besonders einleuchtend am Beispiel der Geometrie. Diese gehen von bestimmten Voraussetzungen aus und bauen auf dieser Basis ein zusammenhängendes System, mit dem sie einzelne Phänomene zu erklären versuchen. Die Dialektik dagegen nimmt zwar auch Voraussetzungen als Ausgangspunkt, dringt aber durch die Prüfung dieser Voraussetzungen in Richtung auf ein ανυπόθετον (das Absolute) auf die αρχή του παντός (der Ursprung des Ganzen) vor. So besteht die sokratische Methode darin, von den Meinungen der Gesprächspartner ausgehend durch ständiges Fragen nach dem Wesen des jeweiligen Gegenstandes zu suchen.

Bei unserem Problem geht Platon von der weitverbreiteten Vorstellung aus, dass die Dichter über ein umfassendes Wissen verfügen und dass die Dichtung also zur Erziehung geeignet sei[3]; durch die Untersuchung der Frage nach dem Wesen des Wissens und der Erziehung und durch die Prüfung der Dichter und ihrer Werke im Zusammenhang dieser beiden Begriffe kommt er dann zu der Feststellung, dass diese Annahme nicht richtig ist; auf Grund seiner neuen Wesensbestimmung von Wissen und Erziehung weist er dann der Dichtung die entsprechende Stellung innerhalb der menschlichen Aktivitäten zu. Dass in dieser Fragestellung auch Aussagen über das Phänomen der Dichtung gemacht werden, kann für uns zwar eine literarhistorische Bedeutung haben[4], für Platon sind sie durchaus sekundär, er beschäftigt sich nicht mit der Dichtung als einem isolierten Problem, wie es bei Aristoteles erscheint, sondern sein Interesse gilt ihr nur in Bezug zur Erkenntnis und auf Grund ihrer erzieherischen, d.h. aber auch politischen Funktion.

Die wichtigste Forderung, die wir an ein System stellen, ist die der Widerspruchslosigkeit. Daher hat aber wohl das Widersprüchliche, das man gerade in der Stellung Platons zur Dichtung zu sehen glaubte, die meisten davon abgehalten, eine systematische Kunsttheorie Platons aufzustellen. Dazu möchte ich jedoch betonen, dass wir, selbst wenn wir kein System bei Platon suchen, nicht einfach einen inneren Widerspruch hinnehmen können, so wie es G. Finsler annimmt, wenn er schreibt[5]:    "In den Schriften aller großen Denker und Dichter finden sich unleugbare Widersprüche und Unebenheiten;" ich stimme Finsler völlig zu, wenn er davor warnt, echte Widersprüche zu verwischen, kann ihm jedoch nicht mehr folgen, wenn er solche Widersprüche im Falle Platons auf eine "leidenschaftliche Natur" zurückführt oder auf "die Stimmung des Augenblicks", die "für den Moment ein ganzes Gebäude über den Haufen wirft und in ihrer elementaren Wirkung dem unlösbare Rätsel aufgibt, der von einem Großen im Reiche der Geister eine leicht fassliche, nach Kapiteln und Paragraphen säuberlich abgeteilte Unterweisung erwartet hat". Es wäre an sich überflüssig, sich mit einer solchen Äußerung überhaupt zu beschäftigen, wenn nicht dieses psychologische Argument gerade zu unserem Problem immer wieder in irgendeiner Form auftauchte. Platons Dialogführung ist gewiss lebhaft und zeigt ein inneres Engagement, eine philosophische Begeisterung, die sich manchmal zu Heftigkeit steigern kann, es kommt jedoch nirgends vor, dass Platon auf Grund eines heftigen Engagements wesentliche Aussagen macht, die mit anderen in Widerspruch stehen; auffallend ist vielmehr die Kontinuität seiner Probleme und Stellungnahmen in seiner ganzen Entwicklung.
Was andrerseits den Widerspruch im Werk "großer" Denker betrifft, so bin ich nicht bereit, solche einfach zu konstatieren und sie etwa noch als ein Merkmal dar Genialität zu betrachten; wenn sich wirklich zeigen .sollte, dass Platon in einem wesentlichen Punkt völlig entgegengesetzte Meinungen vertritt, so müssten daraus Konsequenzen gezogen werden. In unbedeutenden Nebenbemerkungen kann ein Widerspruch einfach dadurch erklärt werden, dass es oft unmöglich ist, ein umfangreiches Werk zu überschauen, in wesentlichen Haltungen jedoch kann ein offener Widerspruch, jedenfalls wenn er bewusst geäußert wird, nur als eine Art Schizophrenie betrachtet werden.

Allerdings sollte man sich bei der Interpretation immer die Haltung zu eigen machen, mit der z.B. Lessing an die Deutung der aristotelischen Poetik herangeht[6]: "Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Misstrauen lieber in meinen als in seinen Verstand... . Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderire ein jedes Wort und sage mir immer: Aristoteles kann irren und hat oft geirrt; aber dass er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's auch." Indem wir mit einer solchen Haltung die Untersuchung durchführen, werden wir feststellen, dass die Diskrepanz der Stellung-nahmen Platons zur Dichtung durchweg aus dem jeweiligen Zusammen-hang und der Verschiedenheit des Aspekts, unter dem die Dichtung gesehen wird, erklärt werden kann, so dass Platons Haltung als durchaus einheitlich gelten kann.

Methoden und Ziele


Indem wir diesem Wechsel der Standpunkte in und zwischen den einzelnen Dialogen Rechnung tragen, gehen wir in unserer Untersuchung das Problem von verschiedenen Seiten an, ohne jedoch vom jeweiligen Ansatzpunkt aus schon endgültige Lösungen anzustreben; daraus ergibt sich die Notwendigkeit häufiger Vor- und Rückverweise, ferner werden wir dieselben Textstellen oft unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten haben, um die Kontinuität sichtbar zu machen. Dabei konnte es nicht unsere Aufgabe sein, alle platonischen Äußerungen anzuführen.[7] Deshalb sollen die Textbelege nur soweit wiedergegeben werden, als sie für die Folgerungen unerlässlich sind; das Hauptziel der Arbeit besteht darin, nach der tieferen Bedeutung der Äußerungen zu fragen und die Folgerungen zu ziehen, die zu einem umfassenden Verständnis der Problematik führen.

Dazu war es erforderlich, Dichtung nicht isoliert zu betrachten in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, nämlich als Wortkunstwerk. Dichtung ist für die Griechen meist mit Musik und auch Tanz verbunden, und dies gilt für Platon noch in stärkerem Maße als für seine Zeitgenossen, denn er lehnt die Entwicklung zur reinen Instrumentalmusik ab und besteht auf der strengen Unterordnung der Musik unter das Wort. Das führt uns in eine terminologische Schwierigkeit, da wir mit unseren Bezeichnungen immer nur einzelne Gattungen erfassen. Ich werde mir dadurch helfen, dass ich dort, wo mehr das Gesamtkunstwerk betont wird, den allgemeinen Aus-druck "Kunst" verwende, und "Dichtung" dort, wo der Wortcharakter hervorgehoben wird, wobei man sich bewusst bleiben muss, dass damit eine Akzentverschiebung, keine sachliche Unterscheidung vorgenommen wird.

Ausgehend von der allgemeinen Bezeichnung der Kunst als μουσική werden wir zu fragen haben, wieweit in der platonischen Auffassung von Kunst religiöse Vorstellungen wirksam sind, indem die Muse als Gottheit zur künstlerischen Produktivität in Beziehung gesetzt wird, und wieweit diese Vorstellungen für die Philosophie Platons im Ganzen bestimmend sind.

Außerdem werden wir uns aber auch durch Platons Betrachtungsweise insofern leiten lassen, als seine Beschäftigung mit Kunst vor allem den erzieherischen, d.h. aber den gesellschaftlichen und politischen Aspekt stark in den Vordergrund rückt. Darüber hinaus werden wir nach den Ursachen zu fragen haben, die der Stellung [8]Platons zur Dichtung zugrunde liegen; dies wird dann umso wichtiger, wenn sich zeigen wird, dass sich diese nicht allein aus der Philosophie Platons erklären lässt; die gesellschaftlichen Ursachen, die wir dabei zu untersuchen haben, betreffen jedoch nicht nur den Teilbereich der Kunst, sondern die ganze Denkweise des Philosophen.

Indem wir unser Hauptaugenmerk auf diese Zusammenhänge richten, werden wir versuchen, Platons Auffassungen aus der geistigen Isolation zu befreien und sie ständig mit unseren heutigen Erfahrungen zu konfrontieren, da wir nur so nicht nur zu einem echten Verständnis sondern auch zu einer für uns fruchtbaren Auseinandersetzung gelangen können.

I. Drei Fragen: Platons Verhältnis zum Musischen


1. Die Platonlegende


Es ist bekannt, dass sich im Bezirk der Akademie ein Altar der Musen befand[9] Da jedoch die antiken Nachrichten über einen Musenkult in Platons Zeiten äußerst spärlich sind, wird diese Tatsache von modernen Interpreten ganz verschieden bewertet, je nachdem ob man Platon die Gründung einer echten Kultgemeinschaft zuschreiben will oder ob man den kultischen Charakter als eine rein äußerlich juristische Angelegenheit betrachtet. Die Entscheidung für die eine oder andere dieser Auffassungen beruht in erster Linie auf der Interpretation des platonischen Werkes, das natürlich die höchste Authentizität beansprucht. Es gibt jedoch noch eine andere Tradition, die für diese Frage von Bedeutung sein kann, ich meine die verschiedenen Motive der Platonlegende, durch die man die Person Platons mit den Musen und Apollon, dem Musegetes, in enge persönliche Verbindung brachte.

Die Geburt Platons, nach alter Oberlieferung am 7. Thargelion, dem Geburtsfest des Delischen Apoll, wurde mit dem Festgott in enge Beziehung gesetzt, indem Platon als die Frucht der Verbindung einer "Apollinis figuratio" mit Periktione, also als Sohn Apollons angesehen wurde. Nach der Geburt sollen die Eltern ihn auf den Hymettos gebracht haben, um für ihn dem Pan, den Nymphen und Apollon Nomios zu opfern, wobei Bienen seinen Mund mit Honig gefüllt und ihm dadurch eine Sprache, μέλιτος γλυκίων (süßer als Honig), verliehen haben sollen[10] Der Tod, der genau an seinem 81. Geburtstag eingetreten sein soll, gab Anlass zu einer sinnreichen Zahlenspekulation! Seneca (ep. VI. 58, 31) berichtet, Magier, die sich zu der Zeit in Athen aufhielten, hätten dem verstorbenen Platon Opfer dargebracht, da sie ihn als ein höheres Wesen betrachteten, was sie daraus schlossen, dass er den "perfectissimum numerum" in seinen Lebensjahren erreicht habe, nämlich neunmal neun. Diese durch die Potenz gesteigerte Neunzahl deutete, wie es in der Vita des Anonymus[11] erklärt wird, auf die enge Verbindung Platons zu den Musen. Auch das wohl bedeutendste Ereignis in Platons Leben wurde durch eine Erzählung apollinischen Charakters hervorgehoben, die ebenfalls auf die wunderbare Sprache Platons Bezug nimmt. Es handelt sich um die bekannte Geschichte von dem Traum, den Sokrates am Tag vor der Bekanntschaft mit dem jungen Platon hatte: Ein junger Schwan habe sich in seinen Schoß gesetzt und sei dann unter wunderbarem Gesang zum Himmel geflogen; diese Erzählung wird u.a. auch bei Pausanias (I 30, 3) berichtet.

Dieser ganze Vorstellungskomplex soll hier nur soweit angedeutet sein[12]; die Textbelege stammen fast ausschließlich aus den Viten des Apuleius von Madaura, des Diogenes Laertios, Olympiodors und des Anonymus, gehen also mit Ausnahme der Nachrichten bei Cicero und Seneca nicht vor das 2. Jh.n.Chr. herab. Sie beziehen sich jedoch meist sicher auf ältere Texte. Diogenes Laertios (III,1) nennt als seine Quellen für die Erzählungen um die Geburt ein “Πλάτωνος περίδειπνον(Leichenschmaus auf Platon)  des Speusipp, ein " Πλάτωνος εγκώμιον"(Loblied auf Platon) des Peripatetikers Klearchos und das 2. Buch "Über die Philosophen" eines Anaxilaides, der weiter nicht bekannt ist; sie reichen also in die Zeit der ersten nachplatonischen Generation hinab, die manches Enkomiastische und Biographische über den Meister geschrieben hat. Dass derartige Motive, besonders das der Zeugung durch Apollon, im Umkreis des späten Platon bekannt waren und auf pythagoreische Vorstellungen zurückgehen, konnte P. Boyancé[13] wahrscheinlich machen. Es soll jedoch hier nicht weiter auf die Quellenkritik eingegangen werden, die ohnehin wohl kaum zu sicheren Ergebnissen führen kann. Wichtig ist für uns die Frage nach der Bedeutung dieser Vorstellungen, seien sie nun früher oder später in der Antike entstanden.

Wir sind gewohnt, Berichte dieser Art einfach hinzunehmen als Legenden der antiken Biographen, die in der Erfindung solcher Legenden und Anekdoten so reich an Phantasie waren, und wir stellen
darin höchstens allgemeine Tendenz fest, Platon als den θεος νρ (göttlicher Mann) hinzustellen[14]. Ich glaube jedoch, dass man im Hinblick auf Platon diese Zeugnisse ernster und differenzierter behandeln muss. Sicher ist die Absicht, die Person Platons zu glorifizieren, ein wichtiger Beweggrund in der Legendenbildung. Aber darüber hinaus können wir in dem ganzen Komplex noch besonders zwei Hauptgesichtspunkte erkennen: erstens ein starkes religiöses Moment, indem nämlich die Person Platons in einen mythisch-religiösen Bereich gerückt wird und zwar mit den traditionellen Mitteln der griechischen Religion, nämlich den Vorstellungen von der göttlichen Herkunft eines Menschen, die die Grundlage des Heroenkultes bildeten[15].

Das zweite Moment ist die spezielle Verbindung zum musischen Bereich; hier spiegelt sich einmal die Wirkung der platonischen Dichtung, ausgedrückt in dem Bild des "Götter und Menschen erfreuenden Gesangs des Schwanes" im Traum des Sokrates und in der Erzählung von den Bienen, die den Mund des Kindes mit Honig füllten, dann aber auch ein spezifisches Verhältnis des Philosophen zu den Musen, das im folgenden noch zu untersuchen sein wird. Beide Momente, das religiöse und das musische, sind in den Qualitäten der Gottheiten, Apollons und der Musen, so eng miteinander verflochten, dass der innere Zusammenhang beider Motive schon durch die Auswahl und Begrenzung dieses speziellen göttlichen Bereiches, in den Platon gestellt wird, offenbar wird.

Wenn wir nun die Komponenten dieses Platonbildes mit unserem Platonverständnis vergleichen, so liegen die Unterschiede auf der Hand, denn uns werden doch das Religiöse und das Musische bei Platon nur in sehr geringem Maße bewusst. Entscheidend für die weitere Untersuchung ist darum die Frage, ob und wieweit die Vorstellungen, die uns in den zitierten Texten fassbar werden, Platon selbst betreffen, indem sie Wirkliches und Wesentliches von ihm aussagen oder ob es nur Auffassungen sind, die mehr über den Geist der Epoche aussagen, in der sie entstanden sind, als über Platon selbst.

Eine besondere Beziehung Platons zu Apollon, und zwar durchaus in den Vorstellungen, die allgemein in der griechischen Auffassung von dem Gott lebendig waren, ist ohne weiteres aus seinem Werk zu ermitteln und wird auch allgemein anerkannt. Wenn sich jedoch darüber hinaus zeigen sollte, dass die Verbindung zu Apollon und den Musen eine so wesentliche Stelle in Platons Welt einnimmt, wie sie in der dargestellten antiken Legendenbildung

sich mythisch-bildhaft ausdrückt, so werden wir daraufhin unsere Vorstellung von Platon in dieser Richtung ändern müssen[16]; ich glaube, dass wir dadurch einige Züge der platonischen Philosophie deutlicher sehen werden.

Einen ersten Anhaltspunkt für die Bestätigung dieser Auffassung wurde schon zu Anfang erwähnt! die Tatsache der Existenz des Musenaltars in der Akademie. Hierin sind schon die beiden wesentlichen Momente vereinigt: Es handelt sich nämlich um einen Altar, also die übliche Form der religiösen Verehrung, und dieser ist den Musen geweiht, zielt also durch diese Weihung auf den ganz spezifischen Bereich, mit dem wir uns hier weiter zu beschäftigen haben. Das Gewicht dieser Tatsache ist jedoch, wie schon gesagt, nur relativ und kann nur durch die Betrachtung des platonischen Werkes richtig eingeschätzt werden.

2. Eine Eigenart des platonischen Sprachgebrauchs


Die Worte Μοσα, μουσική, μουσικός tauchen in Platons Dialogen oft an Stellen auf, wo wir sie nicht vermuten würden und wo sie uns unverständlich erscheinen, ebenso wie sie wahrscheinlich schon dem normalen antiken Leser nicht ohne weiteres verständlich gewesen sein dürften. Die Muse war im frühgriechischen Epos die Gottheit der dichterischen Inspiration; man empfand, dass das Wesen des Dichtens und des Gesangs wie sonst keine menschliche Tätigkeit durch die natürlichen Begabungen des Menschen allein nicht zu erklären sei, dass hierin ein übermenschlicher, göttlicher Einfluss vorliege. Die Ausgestaltung dieser Vorstellung finden wir schon sehr differenziert in der Einleitung zu Hesiods Theogonie. Innerhalb der Götterwelt haben die Musen dort die Aufgabe des μνεν (rühmen). Den Menschen gegenüber sind sie Lehrer des Gesangs und zugleich offenbaren sie ihnen die Geschehnisse der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. Diese beiden Funktionen sind immer untrennbar verbunden; die Eingebung sachlich-inhaltlicher Einsichten, die sich durch den Menschen als Weisheit zeigt, und die Form, in der diese Einsichten dargestellt werden. Dieser Zusammenhang von Form und Inhalt besteht auch dort, wo es sich nicht um Dichtung handelt. Denn wenn (Vers 79 ff.) von Kalliope, der προσφερεστάτη πάσεων (der vortrefflichsten von allen), gesagt wird, sie sei die Begleiterin der Könige, so wird nicht nur ihr Beistand im Regieren hervorgehoben, der König erhält von ihnen nicht nur Weisheit und Einsicht in das Recht, sondern Hesiod sagt zuerst (v. 83 f.):
      τῷ μὲν ἐπὶ γλώσσῃ γλυκερὴν χείουσιν ἐέρσην,
           τοῦ δ' ἔπε' ἐκ στόματος ῥεῖ μείλιχα
(ihm gießen sie auf die Zunge süßen Tau / aus seinem Mund aber fließen honigsüße Worte)
Zu der Urteilskraft des Regenten kommt also die Gabe der "honigsüßen Worte", der schönen Rede, die den Entscheidungen des Königs beim Volke durch ihre Kraft der Überredung größere Wirkung verleiht.[17]
Dieselbe Verbindung beider Musengaben finden wir auch bei Empedokles, ebenso wie auch bei anderen Vorsokratikern, selbst wenn sie nicht in Versen schreiben wie Heraklit z.B. Wenn Aristoteles in der Poetik (1447b17) zwischen Homer und Empedokles scharf unterscheidet, den einen als ποιητής (Dichter), den anderen als φυσιολόγος (Naturforscher) bezeichnet, trifft er damit sicher etwas Richtiges; die Erwähnung der Muse steht bei Empedokles (fr. 3;4|131 Diels) immer in einem Zusammenhang, wo es um Einsichten geht, nicht eindeutig um die schöne Form, es sei denn, dass man das εήνιον ρμα („den lenksamen Wagen des Gesangs") von fr. 3 als Bild für das Dichtwerk ansieht, wie es H. Diels in seiner Übersetzung tut (vgl. auch die Übersetzung von fr. 131). Aber auch Homer ruft die Muse an, dass sie ihm Geschehnisse mitteile; dass dies nur als αοιδή (Gesang) geschieht, ist selbstverständlich; es war auch für Empedokles und andere Vorsokratiker selbstverständlich. Gedanken in gehobener, dichterischer Sprache vorzubringen, gehörte zum Bild dieser "Weisen", die mit dem aristotelischen Begriff von Philosophie wenig gemeinsam hatten, zumindest nicht in ihrer gesellschaftlichen Erscheinungsform. Hierin standen sie den Dichtern oft sehr nahe. Wenn wir nun im aristotelischen Sinne das Schwergewicht auf die philosophischen Inhalte des Empedokles legen, so zeigt uns derselbe Aristoteles, dass wir dennoch nicht berechtigt sind, seinem Werk den dichterischen Charakter abzusprechen, denn in seiner Schrift Περ ποιητν[18](Über die Dichter) nennt er ihn μηρικός (homerisch) und hebt seine gewaltige Sprachkunst hervor, die Metaphern und andere dichterische Mittel verwendete.
Das Verhältnis des Dichters zu den Musen ist gekennzeichnet durch den Begriff des Dienstes, Μουσάων θεράπων (Diener der Musen) nennt Hesiod den Dichter (Theog. 100); es handelt sich dabei um ein ganz persönliches, individuelles Verhältnis, in dem die Muse zwar auch in religiösem Sinne als Gottheit verehrt wird, das jedoch nicht als kultisch zu bezeichnen ist. Ein Kult der Musen kann, abgesehen von den staatlichen Lokalkulten, erst dort auftreten, wo sich eine Gemeinschaft im Sinne des hesiodeischen Μουσάων θεράπων den Musen unterstellt. Nun ist es hier wieder bemerkenswert, dass es gerade Philosophenschulen sind, die den Musenkult in ihren Gemeinschaften pflegen. So können wir einen Musenkult für die Pythagoreer in Kroton mit einiger Sicherheit erschließen[19]. In welchem Sinne diese Beziehung der unteritalischen Philosophengemeinschaft zu den Musen zu verstehen ist, können wir noch ersehen aus einer Stelle der Vita des Pythagoras von Iamblich, die hier zitiert sein soll, weil sie deutlich den Einfluss zeigt, den diese Auffassung auf Platon ausübte (Jambl. vita Pyth. 9.45): « δ πρτον μν ατος (gemeint: den Krotoniaten) συνεβολευσεν ιδρσασθαι Μουσν ερν, να τηρσι  τν πρχουςαν μνοιαν· τατας γρ τς θες κα τν προσηγοραν τν ατν πσας χειν κα μετ'αλλλων παραδεδσθαι κα τας κοινας τιμας μλιστα χαρειν, κα το σνολον  να κα τν ατν ε χορν εναι τν Μουσν, τι d συμφωναν, ρμοναν, υθμν, παντα περιειληφναι  τ παραςκευζοντα τν μνοιαν..»[20] (Er aber riet den Leuten aus Kroton, als erstes ein Heiligtum der Musen zu bauen, damit sie die vorhandene Eintracht pflegen; diese Göttinnen nämlich hätten alle den gleichen Namen und gegenseitig weiter gegeben und sie würden sich am meisten über gemeinsame Ehrungen freuen; überhaupt gebe es immer nur einen und denselben Tanz der Musen, er umfasse Einklang, Harmonie, Rhythmus, alles was die Eintracht schafft.
Wenn die Pythagoreer als Prinzipien alles Seienden Zahlen und deren Verhältnisse annahmen, so lag es nahe, dass für sie Begriffe der Musik, in deren Intervallen sie dieselben Zahlenverhältnisse entdeckten, zu Zentralbegriffen ihrer Lehre wurden, ich meine damit die Begriffe συμφωνία, αρμονία, ρυθμός (Einklang, Harmonie, Rhythmus), die auf alle Bereiche des Seienden übertragen wurden, nicht als Metapher, sondern als Ausdruck von Verhältnissen, die man im Kosmos verwirklicht sah und die man im menschlichen Leben zu verwirklichen suchte. Dadurch erklärt sich die hohe Bedeutung, die die Musik und die Gottheit der Musik, die Muse, für die Pythagoreer hatte, da man in ihr künstlerische Abbilder des Seienden erblicken konnte[21].
Muse auf dem Helikon,
Attisch weißgrundige Lekythos, 440-430 v. Chr.
Der Einfluss pythagoreischer Vorstellungen auf Platon wird für uns immer eine nicht genau zu umreißende Komponente im platonischen Denken bleiben, es wird immer eine offene, aber dennoch bedeutende Frage sein, die wir uns stets im Bewusstsein halten müssen. Ein Punkt dieses Fragenkomplexes dürfte jedoch als gesichert gelten, nämlich die Einwirkung, die die persönliche Begegnung Platons mit den unteritalischen Pythagoreern auf die Gründung der Akademie hatte, einerseits auf den Plan einer Schulgründung überhaupt, andererseits auch auf die besondere Gestaltung der Akademie als Kultgemeinschaft, in deren Mittelpunkt ein Musenheiligtum stand. Dass diese Tatsache eines Musenkultes in der Akademie in demselben Sinne zu verstehen ist wie der Kult in den pythagoreischen Kreisen, werden wir später au zeigen versuchen, wenn wir auf die Bedeutung des musischen Bereichs in der platonischen Erziehungstheorie zu sprechen kommen. Hier möchte ich nur auf einige Eigenarten des platonischen Sprachgebrauchs aufmerksam machen, die nur zu verstehen sind auf Grund der pythagoreischen Übertragung musikalischer Begriffe auf andere Bereiche[22].

So wird z.B. im Protagoras (333a) von zwei Behauptungen gesagt, dass sie ο πάνυ μουσικς λέγονται (nicht ganz musikalisch werden sie gesagt) und die Bedeutung des Ausdrucks wird weiter erklärt: ο γάρ συνδουσιν ουδέ συναρμόττουσιν αλλήλοις (denn sie stimmen nicht miteinander und klingen nicht zusammen).. In dieser Erklärung können wir zwei der oben zitierten musikalischen Begriffe herauslösen, denn das συνδειν (stimmen) ist ein verbales Synonym zu συμφωνία (Einklang), und συναρμόττειν (zusammen klingen) ist stammverwandt mit ρμονία (Harmonie). In demselben Sinne ist die Verwendung des Adverbs μουσικς in der Charakterisierung der wahren Liebe am Ende der Untersuchung der musischen Erziehung der Wächter zu verstehen (Rep. 403a): ὁ δὲ ὀρθὸς ἔρως πέφυκε κοσμίου τε καὶ καλοῦ σωφρόνως τε καὶ μουσικῶς ἐρᾶν;( Die Art der wahren Liebe aber ist es, einen Sittsamen und Schönen auch besonnen und gleichsam musikalisch zu lieben?) Auch hier deutet das Adverb auf eine "harmonische" Ordnung hin, die sowohl in der Seele des Geliebten, des κόσμιος (sittsam), ausgeprägt sein muss, als auch in der des Liebenden; sie schließt alle unordentlichen Leidenschaften aus. Dieser platonische Sprachgebrauch ist uns an sich nicht geläufig, wie er es auch den Griechen nicht war, aber er ist uns doch leicht verständlich, denn auch wir verwenden die Begriffe Harmonie und harmonisch auch dort, wo wir nicht von musikalischen Verhältnissen sprechen.
Erheblich schwieriger wird die Deutung erst dort, wo wir nicht ohne weiteres einen Bezug zur Musik oder zum Bereich des Musischen mehr herstellen können. Wenn z.B. Sokrates im Protagoras (340a) den Prodikos um seinen Beistand bittet für die Interpretation des Simonidesgedichtes, indem er mit einiger Ironie feststellt: καὶ γὰρ οὖν καὶ δεῖται τὸ ὑπὲρ Σιμωνίδου ἐπανόρθωμα τῆς σῆς μουσικῆς, ᾗ τό τε βούλεσθαι καὶ (340b) ἐπιθυμεῖν διαιρεῖς ὡς οὐ ταὐτὸν ὄν (Überdies auch bedarf des Simonides Verteidigung deine Kunst, durch welche du das Wollen und Begehren unterscheidest, dass das nicht einerlei ist),…so würden wir eher τῆς σῆς τέχνης (deiner Fähigkeit) oder επιστήμης (deines Wissens) erwarten, denn die hier angesprochene Fähigkeit des Prodikos hat für uns nichts mit dem Bereich des Musischen zu tun, sondern bezeichnet einfach die semantische Sprachanalyse, für die Prodikos bekannt war. Eine ähnliche Ausdrucksweise finden wir im Sophistes (242de), wo der Fremde aus Elea von Ιάδες καί Σικελικαί τινες Μούσαι (gewisse ionische und sizilische Musen) spricht, welche lehren, dass das Seiende zugleich eins und vieles sei und durch Feindschaft und Freundschaft zusammengehalten werde. Es ist eindeutig, dass hier ganz bestimmte ionische und sizilische Philosophen gemeint sind, nämlich Heraklit und Empedokles. Zur Erklärung dieser Verwendung von Μούσα und μουσική zieht man andere Äußerungen Platons heran, die eine Verbindung von μουσική und Philosophie deutlich machen können. Ich möchte hier nur den Ausdruck Μούσα φιλόσοφος (die philosophische Muse) am Ende des Philebos (67b) oder die Stelle des Phaidros (248d) erwähnen, wo die höchste Stufe menschlicher Rangfolge charakterisiert wird als die des φιλόσοφος φιλόκαλος μουσικός τις κα ρωτικός (eines Mannes, der ein Freund der Weisheit und der Schönen werden wird, oder ein den Musen und der Liebe dienender) oder auch die etymologische Ableitung des Wortes Μοσα von μσθαι (begehren) (Krat.406a)[23]
Am deutlichsten jedoch wird diese enge Beziehung zwischen der μουσική und der Philosophie ausgesprochen in der Rechtfertigung des Sokrates für sein Dichten im Phaidon (60d-6lb). Hier wird ganz klar unterschieden zwischen zwei Arten des Μusendienstes, indem Sokrates einen Traum, der ihm in seinem Leben öfter erschienen sei und ihm befohlen habe, μουσικήν ποιεn και εργάζειν (Musik zu machen und zu betreiben) in der Zeit seiner Kerkerhaft in der naiven Weise deutet, dass er dichten solle (τν δημδη μουσικν ποιεν)( mit dieser gemeinen Musik mich zu beschäftigen), und so dichtet er einen Apollonhymnus und setzt, da es ihm an dichterischer Erfindungsgabe fehle, die Fabeln des Aesop in Verse; früher dagegen hatte er diese Aufforderung immer nur als Ansporn verstanden, das zu tun, was er ohnehin schon immer tat, ὡς φιλοσοφίας μὲν οὔσης μεγίστης μουσικῆς, ἐμοῦ δὲ τοῦτο πράττοντος ( weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist und ich diese doch trieb). Man glaubt nun, aus dieser und aus anderen Stellen die Berechtigung herleiten zu können, die Ausdrücke μουσική in diesem höchsten Sinne und φιλοσοφία als synonym zu verstehen, was dann leicht als sprachliche Eigenart Platons, als Metapher, abgetan wird, ohne dass man weiter nach der Möglichkeit und Entstehung einer solchen Metapher fragt. Zur Stützung dieser Auffassung könnte man zwar darauf hinweisen, dass der Begriff der μουσική  sich schon im 5. Jh. vom speziellen Bereich der Musik und Dichtung auf die gesamte geistige Paideia ausgeweitet hatte[24] und dass Platon diesen allgemeinen Paideiabegriff zu seiner Auffassung von der höchsten Erziehung durch die Philosophie sublimiert habe. Aber auch, wenn man unter μουσική den allgemeinen Bereich der geistigen Bildung versteht, wie es ja auch Platon tut, wenn er die Erziehung nach alter Sitte in γυμναστική und μουσική einteilt, so bleibt der Bezug auf den engeren Bereich der μουσική als Dichtung bestehen, denn diese Bildung beruhte ja bis zum Ende des 5.Jh., bis zur breiteren Auswirkung der Sophistik, fast ausschließlich auf der Beschäftigung mit Dichtung. So glaube ich, dass es notwendig sein wird, zu zeigen, ob und inwieweit diese Begriffe μουσική und φιλοσοφία, die für unser Denken doch zwei sehr verschiedene Gegenstände bezeichnen, sich bei Platon einander affizieren und sich gegenseitig durchdringen, so dass er sie fast synonym verwenden kann.


Ein dritter Weg zu unserem Problem ist schließlich die Betrachtung der platonischen "Dichtung" in ihrem Verhältnis zu seinem Philosophieren. Dass die Dialoge Platons Dichtungen sind, muss hier nicht erst durch eine ausführliche Werkanalyse gezeigt werden. In ihrem Aufbau als Gespräche, in der Szenerie und in den Charakterisierungen der Gesprächspartner durch alle Mittel der darstellenden Kunst zeigt sich ein starkes dramatisches Element, das in allen Dialogen mehr oder weniger vorhanden ist, auch dort, wo das Gespräch in lange Reden übergeht wie im Menexenos, im Symposion, im Phaidros oder im Timaios, denn auch diese Dialoge sind als wirkliche Gespräche inszeniert und man hat sich während der einzelnen Reden eines Teilnehmers die anderen Partner stets als Zuhörer vorzustellen. Ein weiteres dichterisches Element, das sich mit dem ersten eng verbindet, ist die sprachliche Gestaltung, und hier denke ich nicht so sehr an so ausgesprochen "lyrische" Partien, wie sie im Phaidros zu finden sind, auch nicht an die Erfindung und Ausgestaltung der Mythen; bei näherer Prüfung ergäbe sich, dass diese Stellen gar nicht so sehr aus dem Rahmen des platonischen Stils ausbrechen. Ich denke vielmehr an die ganze Art, bzw. die Vielfalt der Arten, wie Platon seine Gedankengänge sprachlich formt.
Dass wir es hier mit wirklicher Dichtung zu tun haben, geht schon aus Äußerungen Platons selbst hervor. Denn wenn Sokrates den Phaidros darauf aufmerksam macht (Phaidr.241 e), ὅτι ἤδη ἔπη φθέγγομαι ἀλλ' οὐκέτι διθυράμβους, καὶ ταῦτα ψέγων; (Hast du denn nicht gemerkt, du Seliger, daß ich schon Verse spreche, nicht mehr nur Dithyramben, und das noch, indem ich tadle?)  so hat daran die Selbstironie des Sokrates sicher ihren Anteil, in den Nomoi dagegen (811c) stellt der Athener die Gespräche, die er mit dem Kreter und dem Spartaner - οκ- νευ τινός πιπνοίας θεν. (nicht ohne einen Anhauch göttlicher Begeisterung))  geführt hat, geradezu als Paradeigma hin, παντάπασι ποιήσει τινι προσομοίως (durchaus einer Dichtung ähnlich) und schlägt sie als vorzüglichen Unterrichtsstoff vor, an dem sich auch die Auswahl anderer Dichtwerke orientieren müsse.
Das dichterische Element der platonischen Werke wurde in der späteren Antike immer wieder hervorgehoben, wie es z.B. in den Motiven der anfangs besprochenen Platonlegende zum Ausdruck kommt. Gewichtiger dürfte uns jedoch noch das Urteil eines Mannes wie des Autors von Περί ψους (Über das Erhabene) sein, der Platon in nächste Nähe zu dem Dichter schlechthin, zu Homer, rückt, indem er ihn (Kap.13.3) als μηρικώτατος (der Homerischste) bezeichnet. Wir können die Auffassung des Autors, dass Platon από τού μηρικού κείνου νάματος ες ατν μυρίας σας παρατροπάς (von jener homerischen Quelle Tausende Rinnsale auf sich) abgeleitet habe, dass er also ein μιμητής και ζηλώτη μήρου (Nachahmer und Verehrer Homers) sei, kaum noch in diesem speziellen Sinne nachvollziehen, außer  eben in der allgemeinen Feststellung, dass der dichterische Charakter der platonischen Schriften für antike wie auch für moderne Leser unmittelbar bewusst wird.
Wichtiger für uns und schwieriger ist die Frage nach dem Verhältnis dieses dichterischen Elements zu Platons Philosophie. Was nun allein die dialogische Gestaltung betrifft, so ist ihre enge Beziehung zu der Eigenart platonischen Philosophierens schon seit langem erkannt und anerkannt: Der dialogische Wechsel von Frage und Antwort, die literarische Fortsetzung und Nachahmung des sokratischen Gesprächs, ist die einzige Form, in der sich das Wesentliche des platonischen Denkens entfalten kann, und dies gilt, das möchte ich mit Nachdruck feststellen, für alle Dialoge, auch die Spätwerke; ich kann Wilamowitz darin nicht zustimmen, dass er behauptet: "Überwunden hatte ihn (scil. den Dialog) eigentlich schon Platon, denn der Timaios ist kein Dialog mehr, und vom Sophistes und Philebos wünschen wir, sie wären nicht in diese Form gepreßt."[25] Wie wichtig das Dialogische für Platon war, auch dort noch, wo die Antworten streckenweise auf stereotyp erscheinende Formeln reduziert sind, wird man erkennen, wenn man eine Diskussion, an der man selbst teilnimmt, methodisch untersucht und mit der platonischen Dialogführung vergleicht, soweit sich beides vergleichen lässt. Wir werden dann bemerken, dass viele Diskussionen immer wieder daran scheitern, dass die Teilnehmer aneinander vorbeireden, da sie nicht versuchen, schrittweise über die einzelnen Entwicklungsstufen innerhalb einer Argumentation eine Übereinstimmung zu erzielen. Diese beständige Aufforderung des μολογεν (zustimmen) zwingt den Gesprächspartner wie sonst keine Form der Abhandlung, den Gedankengang mitzuvollziehen und eine klare Entscheidung zu treffen. Dabei ist die Kunst Platons, seine Gedanken in Fragen zu formulieren, die eine eindeutige Entscheidung mit ja oder nein verlangen, sowie die Geduld, mit der Sokrates bei Unklarheiten in seinen Fragestellungen immer wieder zurückgreift oder mit der er, wenn es sich um einen echten Gegner handelt wie Kallikles, diesem in alle Winkelzüge seiner Sophistik nachgeht und ihn zur Zustimmung zwingt, höchster Bewunderung wert und in einer Zeit, in der geistige Auseinandersetzungen in Form von Diskussionen so gefordert sind wie ιn der unseren, höchst nachahmenswert.
 Das Ziel dieser dialektischen Form von Philosophie ist zunächst ein pädagogisches, sie gründet auf der Einsicht, dass nichts damit getan ist, dass ein Gedanke in Form eines Satzes einfach als Wissen auf einen anderen Menschen übertragen wird, dass ein Lernender nur dann wirklich gefördert wird, wenn er durch die Formulierung eines Gedankens in Form einer Frage dazu aufgefordert wird, über die Richtigkeit des Gedankens zu entscheiden ( διακρίνειν), d.h. Kritik zu üben, gegründet auf ein wirkliches Verständnis. Darüber hinaus ist die platonische Dialektik zu verstehen als dichterische Darstellung der unermüdlichen Wahrheitssuche, des ständigen Infragestellens eigener und fremder Meinungen, was uns immer mehr als das wesentliche Moment der platonischen Philosophie erscheint.
Ungleich schwieriger als die Notwendigkeit der Dialogform ist der Zusammenhang zu klären zwischen der sprachlichen Form und dem philosophischen Inhalt in Platons Werk. Sehen wir z.B., in welcher Form Platon ein mathematisches Problem darstellt. Wir sind gewohnt, einen solchen Gegenstand in der nüchternsten, abstraktesten Form aufzustellen, nämlich durch einfache Zahlzeichen; Platon dagegen führt uns im 8. Buch der Politeia (546c) eine Zahlenkonstruktion in einer sprachlichen Form vor, die unserem Verständnis erhebliche Schwierigkeiten bereitet [26] Dabei versteht es Platon, seinen Stil jeweils dem Zusammenhang völlig anzupassen; man vergleiche etwa mit dieser Konstruktion der Zahl, nach der die Heiraten festgelegt werden, die äußerst einfache und anschauliche Art, wie Sokrates im Menon (62b-85b) dem Sklaven das Problem der Verdoppelung eines Quadrats verständlich macht oder wie Theaitet, der Schüler des Mathematikers Theodoros, über die Einteilung der Zahlen spricht (Theait.147d-48b).
Was bedeutet nun diese - nennen wir es vorläufig "Einkleidung" begrifflicher Zusammenhänge in eine sprachliche Form, die uns auf den ersten Blick oft als Hindernis den Weg zum direkten Verständnis verstellt? Zur Erklärung dieses Problems "teilt" man die Persönlichkeit Platons in zwei Komponenten, eine Dichternatur und eine philosophische, und versucht dann die Eigenart des platonischen Werkes aus dem Verhältnis dieser beiden Faktoren zu deuten. Dabei greift man gerne auf antike Nachrichten zurück, die uns berichten, dass Platon in seiner Jugend Tragödien, Dithyramben und Epen gedichtet habe, dass er aber nach der Bekanntschaft mit Sokrates damit ein abruptes Ende gemacht und seine Dichtungen verbrannt habe. Im Sinne dieser Tradition glaubt z.B. Paul Friedländer[27], einen inneren Zwiespalt zwischen dem Dichter und dem Philosophen Platon annehmen zu müssen, der sich auch in  dem Kampf Platons gegen die Dichtung äußere; "Platons geschriebenes Werk ist immer wieder Mimesis, aber es wehrt sich dagegen, Mimesis zu bleiben". Zieht man aus dieser Auffassung die weiteren Konsequenzen, so kommt man zu der Annahme, dass Platon die dichterische Begabung seiner Natur in sich gewaltsam ersticken wollte, dass sie aber dennoch immer wieder in ihm hervorgebrochen sei und sich in seinem Werk niedergeschlagen habe, d.h. mit andern Worten: Wir müssen Platon eine weitgehende Unbeherrschtheit zuschreiben, und wenn wir mit Friedländer die Tatsache des durchgehend mimetischen Charakters der Dialoge feststellen, müssten wir das ganze Werk im streng platonischen  Sinne als ungewollt und verfehlt bezeichnen[28].  Im Gegensatz zu dieser Auffassung betont Wilamowitz einseitig den Dichter in Platon, indem er behauptet[29]: "Er schreibt, weil er muss,.... Er muss, weil er ein Dichter ist, Eros und Muse führen ihn. Einen praktischen Zweck verfolgt er nicht." Diese ästhetische Betrachtungsweise muss jedoch am Wesentlichen des platonischen Werkes vorbeigehen, da es seinen philosophischen Gehalt und dessen Absichten verkennt, und selbst wenn Platon im Phaidros (276b ff.) die Schriftstellerei als Spiel bezeichnet, so ist eben für ihn auch das Spiel keine völlig zweckfreie Tätigkeit[30], sondern dient von früher Kindheit an einem pädagogischen Ziel.

Eine vermittelnde Stellung nimmt die Ansicht ein, Platon habe die zwei widerstrebenden Begabungen in sich zum Einklang gebracht, in dem Sinne, dass die dichterische Begabung der Darstellung seiner philosophischen Gehalte zugutegekommen sei. Nun ist es zwar durchaus wünschenswert, wenn einem Wissenschaftler oder Philosophen ein gewisses literarisches Talent zur Verfügung steht, wenn jedoch diese Fähigkeiten zur Gestaltung den eigentlichen philosophischen Inhalt stellenweise so überwuchern, dass sie unser unmittelbares Verständnis hindern oder den Gedankengang in Bildern mehr verhüllen als klären, so wird diese Verbindung von Dichter und Philosoph äußerst fraglich. Denn sehen wir das platonische Werk in diesem Licht, dass nämlich die dichterische Einkleidung der Gedanken als mehr oder weniger glückliche Zugabe erscheint, so geraten wir in die große Verlegenheit, Platon als einen Scharlatan zu bezeichnen - nicht viel besser als die von ihm so geschmähten Sophisten – wenn er uns mit seinen fiktiven Reden und Gesprächen und einer oft umständlich erscheinenden Diktion überflüssigerweise an der Nase herumführt, bevor wir vielleicht zu einem Verständnis gelangen. Dass auch diese Deutung nicht richtig sein kann, zeigt Platon selbst, indem er nämlich oft die Dunkelheit, Unverständlichkeit und Zweideutigkeit sprachlicher Formulierungen ironisch herausstellt und damit vor allem die Dichter, aber auch einige frühere Philosophen kritisiert.
     Wo liegt nun der richtige Weg zu einem wirklichen Verständnis des Problems? Zunächst müssen wir feststellen, dass selbst wenn wir der antiken Nachricht von Platons Dichtungsversuchen Glauben schenken, gar keine psychologische Notwendigkeit vorliegt, dass der Abbruch dieser Jugendbeschäftigung einen inneren Zwiespalt, gleichsam eine Schizophrenie für Platons ganzes späteres Leben bedeutete. Wenn man diesen durch die Begegnung mit Sokrates ausgelösten Umschwung von der Dichtung zur Philosophie in dieser Weise deutet, begeht man denselben Fehler, den einige Interpreten des Phaidros machen, wenn sie an der Stelle 257 b einen Kompositionsbruch annehmen, ohne zu sehen, dass beide Teile, die Reden über Eros und die dialektische Reflexion für Platon aufs engste zusammengehören, dass beides nur verschiedene Formen des Philosophierens sind. Ebenso müssen wir uns wohl auch den Wechsel von der Dichtung zur Philosophie vorstellen, nicht als "Kompositionsbruch", sondern als Verwandlung; Durch die Bekanntschaft mit Sokrates wird Platon auf eine höhere Stufe geführt - ein echter Erziehungsvorgang, dessen Intensität auf die Stärke des erzieherischen Eros zwischen Sokrates und Platon schließen lässt[31] In dieser höheren Stufe werden die Züge des jugendlichen Dichters mit denen der sokratischen Dialektik zu einer Einheit verbunden, deren Konsequenzen auf die Struktur des platonischen Philosophierens für unsere weitere Untersuchung von großer Bedeutung sein werden. Erst eine solche organische Verwandlung ist die Grundlage zur Bildung einer Persönlichkeit vom Format Platons; es gibt in seinem Wesen gewiss starke Gegensätze, die aber auf einer anderen Ebene liegen; wir werden später darauf zurückkommen.

II. Die griechische Dichtung bei Platon

1. Dichterzitate


Bei unseren bisherigen Betrachtungen handelte es sich, soweit es uns um das platonische Werk ging, um Äußerungen, die nicht eine gezielte Stellungnahme zum Bereich der Dichtung und allgemein der μουσική enthalten, die aber gerade dadurch umso sicherer einen indirekten Schluss erlauben auf Platons Grundhaltung. Wenn wir nun dazu übergehen, diese innere Haltung zur Kunst im allgemeinen, der wir uns bisher nur in Form von Fragen nähern konnten, weiter zu untersuchen und zu klären, so stoßen wir zunächst auf ein Phänomen, das zwischen den erwähnten allgemeinen und indirekten Äußerungen und den ausdrücklichen Reflexionen über Kunst eine Zwischenstellung einnimmt, ich meine das Phänomen der Dichterzitate in Platons Werk, die zwar auch keine Stellungnahme bedeuten, die aber wieder indirekt das Verhältnis Platons zur Dichtung, und zwar speziell zu der ihm vorliegenden griechischen Dichtung kennzeichnen.

In fast allen Dialogen finden wir Zitate, die Platon aus dem Gedächtnis in das Gespräch einfließen lässt, oft nur Versteile, die in einen Satz eingefügt werden, oft führt er das Zitat mit einem Hinweis auf den Autor ein, manchmal wird auch die Richtigkeit oder die Ausdrucksweise der zitierten Verse besonders bemerkt, wenn z.B.Kephalos von einigen Pindarversen sagt (Rep. 331a): ε ον λέγει θαυμαστς ς σφόδρα (vortrefflich sagt er und recht wunderbar) oder wenn diese gar als χαριέντως (anmutig) bezeichnet werden, oder es wird die Weisheit des Dichters durch die Charakterisierung als σοφός (weise) oder θεος (göttlich) hervorgehoben (z.B. Men. 81 b). Die Funktion dieser Zitate müsste für jede Stelle aus dem Zusammenhang bestimmt werden, was Gegenstand einer eigenen Untersuchung wäre[32] . Dabei wäre vor allem zu untersuchen, wie viel hier der sokratischen Ironie zuzuschreiben ist, ferner wäre auch die Person zu berücksichtigen, der die Rede jeweils in den Mund gelegt wird und die dadurch auch charakterisiert wird[33].

Für uns ist es hier vor allem wichtig zu fragen, was die Tatsache überhaupt, dass Platon Dichterverse zitiert, bedeutet. Im Allgemeinen verwendet man Zitate als einen gewissen Schmuck der Rede oder um seine Aussage durch die Autorität eines Dichters zu stützen oder zu verdeutlichen, indem man im Hörer an vertraute Vorstellungen anknüpft. Bei Platon spielen diese Faktoren sicher auch eine Rolle, aber bei ιhm bringt die Einbeziehung von Dichterzeugnissen doch einige Schwierigkeiten mit sich. Wenn wir uns nämlich auf den Standpunkt der strengsten Ablehnung Homers und der Tragiker stellen, wie sie im 10. Buch des Staates ausgesprochen wird, so müssen wir uns doch fragen, wie die vielfach positive Verwendung von Zitaten dieser Dichter, selbst in der Politeia, damit zu vereinbaren ist, denn irgendeinen Wert muss er dem Dichter, wenigstens in den jeweils zitierten Versen, zuerkannt haben, ob er sie nun wegen der Richtigkeit ihrer Aussagen oder wegen der Prägnanz ihrer dichterischen Formulierung eines richtigen Gedankens gewählt hat. Diese Beobachtung kann uns schon auf dieser äußerlichen Ebene des bloßen Zitats zeigen, dass das Verhältnis Platons zur griechischen Dichtung nicht so einseitig als Ablehnung zu kennzeichnen ist; sie wird uns von vornherein davor bewahren, ihn, auch in seinen schärfsten Angriffen gegen die Dichtung, als deren puritanischen Gegner zu betrachten .

2. Dichterinterpretation


Im Protagoras beginnt der Sophist, nachdem der erste Dialogversuch gescheitert war, eine neue Untersuchung, die von den anwesenden Sophisten gerne als "zünftiger" Redeagon inszeniert worden wäre, mit der Interpretation eines Simonidesgedichts; denn, so behauptet er (338e), es gehöre zur Bildung eines Menschen, „über Dichtung reden zu können“ (περὶ ἐπῶν δεινὸν εἶναι) und diese Fähigkeit definiert er als τὰ ὑπὸ τῶν ποιητῶν λεγόμενα οἷόν τ'εἶναι συνιέναι ἅ τε ὀρθῶς πεποίηται καὶ ἃ μή, καὶ ἐπίστασθαι διελεῖν τε καὶ ἐρωτώμενον λόγον δοῦναι.(das von den Dichtern Gesagte zu verstehen, was gut gedichtet ist und was nicht, auch es erklären und, wenn er gefragt wird, Rechenschaft geben zu können.) In dieser Richtung hält sich denn auch seine ganze Rede: Er beschränkt sich darauf, dem Simonides nachzuweisen, dass dieser sich widerspreche, indem er dem Satz des Pittakos, χαλεπν σθλν μμεναι (es ist schwierig, gut zu sein),  einen eigenen Satz, der sich von jenem gar nicht unterscheide, als Kritik gegenüberstelle: [339b] ἄνδρ' ἀγαθὸν μὲν ἀλαθέως γενέσθαι χαλεπόν (ein guter Mann in Wahrheit zu werden, ist schwierig), und Protagoras erntet daraufhin den allseitigen Beifall der Sophisten. Platon stellt die ganze Sache als sophistischen Topos dar, der nur auf seine Wirkung bei den Zuhörern abzielt; so mischt sich auch später Hippias ein und bietet seinerseits einen fertigen Logos über das Thema an. Wir sollen in dieser Art der sophistischen Dichterkritik wohl dieselbe Absicht sehen, die Sokrates später dem Simonides gegenüber Pittakos zuschreibt, dass man nämlich versucht, durch die Kritik an einem weisen Dichter, als der Simonides sicher galt, sich selbst als noch weiser erscheinen zu lassen.

 Sokrates nimmt die Ausführungen des Protagoras als Herausforderung an. Zunächst zeigt er durch eine semantische Unterscheidung von εναι (sein), und γενέσθαι (werden), mit der er sich ausdrücklich auf Prodikos beruft, dass der Widerspruch, den Protagoras zeigt, gar nicht besteht, denn Pittakos behaupte, es sei schwer, gut zu sein, Simonides aber stelle dagegen, es sei schwer, gut zu werden. Dieser Gegensatz wird dann von Sokrates weiter akzentuiert, indem er nämlich nachweist, dass der Satz des Pittakos, es sei schwer, gut zu sein, von Simonides dahin abgeändert wird, dass er behauptet, es sei für die Menschen überhaupt unmöglich, gut zu sein. Interessant sind für uns an dieser Auseinandersetzung die höchst differenzierten Methoden der Interpretation und ferner ihre eigenartige Verwendung durch Sokrates. Wir finden zunächst den Versuch einer exakten semantischen Wortanalyse, die bis zur Andeutung einer - von Sokrates allerdings ironisch eingeführten - Dialektforschung geht. Es wird jedoch gezeigt, dass diese Wortbestimmung nicht selbständig durchgeführt werden kann, sondern dass sie dem Sinnzusammenhang unterzuordnen ist. Ferner greift Sokrates syntaktische Probleme auf und zieht auch andere Dichter, z.B. Hesiod, zur Deutung heran. Außerdem wird nach der Gesamttendenz des Gedichtes gefragt, nach der βούλησις (Absicht), die Sokrates in dem λεγχος το Πιττακείου ήματος (Widerlegung der Aussage von Pittakos) sieht (344b) und die er auch im ganzen Gedicht bis hin zur Diktion (vgl. die Deutung des μέν [zwar]343d) aufzuweisen versucht. Darüber hinaus sucht Sokrates nach einer psychologischen Motivation dieser Tendenz und glaubt, sie in der etwas unschönen Absicht des Simonides zu erkennen, durch die Kritik an einem der bekannten Sieben Weisen seine eigene Weisheit ins Licht zu stellen. Außerdem findet Sokrates an einer Stelle eine biographische Selbstaussage des Dichters, indem er das Bekenntnis πντας δ' πανημι κα φιλω κν στις ρδ μηδν ασχρν (Alle daher lobe ich und liebe, wer nichts Schlechtes vollbringt, aus freier Wahl) [345d], in ganz origineller Weise deutet: Er unterschiebt dem Simonides seine eigene Überzeugung, dass man nicht freiwillig Schlechtes tun kann und zieht deswegen das κν (freiwillig) zu πανημι κα φιλω (lobe und liebe ich),  was grammatisch wohl möglich ist. In dieser Auffassung heißt dann der Satz: "Alle lobe und liebe ich freiwillig, soweit sie nichts Häßliches tun." Sokrates stellt dann das folgende νγκ δ' οδ θεο μχονται (gegen die Notwendikeit kämpfen aber nicht einmal die Götter) dem εκών  gegenüber und folgert, dass Simonides andeuten wolle, dass er auch unter Zwang loben und ehren müsse, und zwar Leute, die auch Schlechtes tun; das versteht Sokrates als Anspielung auf das Verhältnis des Simonides zu seinen Brotherren, den Tyrannen.
Betrachten wir diese Interpretationsmethoden unabhängig von ihrer Anwendung durch Sokrates, so müssen wir anerkennen, dass es mit ihrer Hilfe durchaus möglich war, eine Dichtung aus sich heraus und auch in ihrem Zusammenhang zur Persönlichkeit des Dichters und zu seinen Zeitverhältnissen zu verstehen. Die Entwicklung dieser Methoden geht sicherlich über Platon hinaus ins 5. Jh. zurück, und da ist es nicht zuletzt die Sophistik, die daran ihren Anteil hatte[34]. Dass diese Bemühungen um die Werke der Dichter nicht nur darauf abzielten, wie es uns Platon hier für Protagoras glauben machen will, im Werk der Dichter echte oder unechte Widersprüche aufzuspüren, sondern dass man ebenso versuchte, offensichtliche Widersprüche, ob sie nun innerhalb eines Werkes auftraten oder auch zwischen einem älteren Werk und den Anschauungen der Gegenwart, durch Interpretation zu beseitigen, zeigen allein schon die bekannten Versuche der allegorischen Deutung, gegen die sich Plato im 2. Buch der Politeia wendet (378d).

Die Voraussetzung dieser Deutungsversuche war die feste Überzeugung, dass in den Werken der großen Dichter tiefste Einsichten in alle Lebensbereiche  enthalten seien,  eine Überzeugung, die sich darin schon  lange offenbarte, dass die Dichter, vor allem Homer, als fast ausschließlicher Unterrichtsstoff unangefochtene Autorität besaßen. Wenn nun diese Autorität durch Kritik, wohl auch aus sophistischen Kreisen, erschüttert zu werden drohte, so war es eine notwendige Reaktion, die tiefe Weisheit der Dichter durch die Interpretation auch rational bewusst zu machen.

Diese Bestrebungen greift Platon in seinem Werk auf und setzt sich mit ihnen auseinander. Im Lysis z.B. zitiert Sokrates zwei Dichterstellen als Ausgangspunkt einer Erörterung (213 e)[35] Es handelt sich hier wohl um sprichwörtliche Redensarten, einmal um einen Vers aus der Anrede des Ziegenhirten Melantheus an Eumaios und Odysseus als Bettler (Od. XVII.218 ς αε τν μοον γει θες  ς τν μοον)(dass der Gott immer sich ähnliche Menschen zusammen führt), als zweites um einen Vers aus der Darstellung der γαθη ρις (die gute Streitgöttin) aus Hesiods Erga (v. 25 f.):
                             κα κεραμες κεραμε κοτει κα τκτονι τκτων,
                             κα πτωχς πτωχ φθονει κα οιδς οιδ.
(Der Töpfer wetteifert mit dem Töpfer und der Baumeister mit dem Baumeister / und der Bettler ist neidisch auf den Bettler und der Sänger auf den Sänger)
Es geht Platon hier nicht um eine Interpretation; die beiden Dichter werden nur zitiert als Vertreter von entgegengesetzten Ansichten, die jeweils auch von verschiedenen Philosophen gelehrt werden. Obwohl Sokrates aber die Untersuchung über die Bedingungen zur Entstehung von Freundschaft weiterführt, ohne auf die Zitate zurückzukommen, wirft die Gegenüberstellung ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis Platons zu den Dichtern, d.h. zu der Auffassung, dass in ihren Werken sich höchste Weisheit ausspreche; denn wenn er uns zeigen will, dass sich die beiden größten epischen Dichter einander widersprechen, und wenn er jede der beiden Aussagen für sich ad absurdum führt, so ist klar, was er von der anerkannten Weisheit dieser Dichter hält und auch, dass in den Einleitungsworten über die Dichter (214a οτοι γρ μιν σπερ πατρες τς σοφας εσν κα γεμνες. [Diese sind uns ja wie Väter der Weisheit und Führer zu ihr) nur die allgemein verbreitete Meinung über die Dichter ironisch ausgesprochen wird. Die Art jedoch, wie Sokrates hier Aussagen der Dichter behandelt, ist, bei aller Verschiedenheit der Absichten, doch dieselbe wie die des Protagoras in der oben erwähnten Auseinandersetzung; denn ebenso wie der Sophist löst auch Sokrates zwei Textstellen aus ihrem Zusammenhang heraus und setzt ihre Aussagen absolut[36]. Außerdem lassen sich die beiden Textstellen im Grunde nicht vergleichen, da es sich bei dem μοον (ähnlich) des homerischen Sprichworts um charakterliche Ähnlichkeit handelt, die zur Freundschaft führt, während eine solche zwischen den verschiedenen Berufen, die in dem Hesiodzitat genannt werden, nicht besteht.

Eine ganze Reihe von Beispielen solch oberflächlicher, geradezu verfälschender Behandlung von Texten findet sich in dem großen Abschnitt der Dichterkritik im zweiten und dritten Buch des Staates. Eine dieser Fehldeutungen möchte ich hier in Übersetzung vorstellen, weil sie besonders deutlich zeigt, wie wenig Platon sich um ein richtiges Verständnis von Dichterstellen schert. Es handelt sich um ein Zitat aus der Einleitung der Irrfahrtenerzählung des Odysseus im 9. Buch der Odyssee (Rep. 590ab): "Wie aber? den weisesten Mann sagen lassen, dass ihm als Schönstes von allem zu sein scheint, wenn 'alle Tische bedeckt sind mit Gebacknem und Fleisch, und der Schenke den Wein aus dem Kelche fleißig schöpft und ringsum die vollen Becher verteilet‘ scheint dir, das zu hören, für einen jungen Menschen geeignet zu sein zur Selbstbeherrschung?" Wie Platon es


darstellt, hören wir hier Odysseus die Gedanken eines Schlemmers aussprechen. Vergleichen wir dagegen die ganze Stelle bei Homer (Od.IX,2-11)
Weitgepriesener Held Alkinoos, mächtigster König,
Wahrlich es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesange zu horchen,
Wenn ein Sänger wie dieser die Töne der Himmlischen nachahmt.
Denn ich kenne gewiss kein angenehmeres Leben, (?,s.u.)
Als wenn ein ganzes Volk ein Fest der Freude begehet,
Und in den Häusern umher die gereiheten Gäste des Sängers
Melodien horchen und alle Tische bedeckt sind
Mit Gebacknem und Fleisch, und der Schenke den Wein aus dem Kelche
Fleißig schöpft und ringsum die vollen Becher verteilet. 
Siehe, das nennet mein Herz die höchste Wonne des Lebens. [37]

Was hier dem homerischen Odysseus, dem πολύτροπος (vielgereisten) und πολύτλας (der viel erlitten hat) als das κάλλιστον (das Schönste) erscheint, ist die Phäakeninsel mit ihrem in allen Bereichen von Ordnung, Frieden und Glück durchdrungenen Leben, wie es sich am schönsten in der Tischgemeinschaft mit dem Sänger zeigt[38]. Dass für Platon selbst diese Bedeutung der Tischgemeinschaft nicht so fremd war, wie sie uns heute vielfach ist, zeigen u. a. die beiden ersten Bücher der Nomoi, in denen sich das Gespräch mit der Ordnung und der geistig erzieherischen Funktion des Symposions beschäftigt. An Platons Zitat fällt vor allem auf, dass er nur einen bestimmten Ausschnitt herausgreift; hätte er die ganze Stelle zitiert, so würde ihm niemand seine Kritik abgenommen haben. Gerade diese Zitierweise bringt die Gefahr mit sich, der auch Platon, wie wir sehen, nicht entgangen ist, nämlich eine Aussage als Lebensanschauung absolut zu setzen, die bei Homer bloß Ausdruck einer speziellen Situation ist. Eine solche verallgemeinernde Überbetonung der Verse zeigt sich auch in der zitierten Übersetzung von Voß, wenn er das homerische τέλος (Ziel) mit "Leben" wiedergibt und auch im letzten Vers wieder auf dieses Wort zurückgreift. Die Kritik Platons ist so offenkundig unsachlich und ungerecht, dass wir sie auch nicht als bloße Übertreibung der Kritik vom ethisch erzieherischen Standpunkt her erklären können, denn jede Kritik muss doch vom
echten Verständnis ihres Gegenstandes ausgehen. Aber Platon scheint eben auf die Bemühungen um ein solches Verständnis in Bezug auf Dichtung keinen Wert zu legen.

Ein Teil dieser Fehldeutungen lässt sich vielleicht darauf zurückführen, dass Platon meist aus dem Gedächtnis zitiert, was sich aus der Wiedergabe der Texte erschließen lässt; oft sind sie unvollständig, abweichend, oder es werden auch Teile zweier verschiedener Verse aneinander gesetzt, wie z.B. in dem oben erwähnten Hesiodzitat (Lysis 215c). Man konnte sich also vorstellen, dass Platon während des Schreibens einige ihm passend erscheinende Verse ins Gedächtnis kommen, die er dann einfügt, ohne auf ihren Zusammenhang weiter zu achten. Aber auch das zeigt ja, dass es ihm nicht um ein objektives Verständnis der Dichtung ging, sonst hätte er auch die große Mühe, die das Νachschlagen einer Stelle in einer unübersichtlichen Papyrusrolle kostete, nicht gescheut.
Umso seltsamer muss uns dagegen die Exaktheit erscheinen, mit der, wie wir zu Anfang des Kapitels gesehen haben, Sokrates an die Deutung des Simonidesgedichtes herangeht. Dass hier keine ernste Absicht eines Deutungsversuchs vorliegt, ersehen wir aus all den Beobachtungen, die wir im Vorhergehenden gemacht haben, aber auch an der Art, wie Sokrates in seiner Deutung des Simonides die an sich exakten Interpretationsmethoden anwendet. Er spielt mit den Methoden, und zwar nicht in der Absicht, auch auf diesem Feld seine Überlegenheit über die Sophisten zu zeigen, sondern um diese Methoden selbst und überhaupt den Wert einer Interpretation fragwürdig erscheinen zu lassen. So dienen seine semantischen Unterscheidungen einerseits dazu, Protagoras zu widerlegen, indem er Prodikos gegen Protagoras ausspielt, aber zugleich wird auch die Methode des Prodikos ironisch behandelt. Wenn Sokrates dann im weiteren dem Simonides seine eigene Überzeugung unterschiebt, dass niemand freiwillig Unrecht tue, so glaube ich, dass Platon sich wohl bewusst war, dass seine Deutung gar nicht so selbstverständlich war, wie er es darstellt. Es kam ihm doch wohl nur darauf an zu zeigen, dass man allein schon durch eine andere Auffassung der Satzkonstruktion eine dichterische Aussage so deuten kann, dass man in ihr seine eigene Überzeugung ausgedrückt findet.

Die ausdrückliche Begründung seiner Geringschätzung dieser Art von Beschäftigung mit der Dichtung gibt Sokrates dann, nachdem der Vorschlag des Hippias, eine eigene Rede über das Simonidesgedicht vorzutragen, von Alkibiades höflich abgelehnt wurde, damit der Dialog zwischen Protagoras und Sokrates über das Thema wieder aufgenommen werde, denn zu diesem Thema der Lehrbarkeit der Tugend hat die ganze Interpretation nichts beigetragen.
Sokrates vergleicht zunächst ein Gespräch über Dichtung mit einem Symposion, wo man sich nur mit Hilfe von Flötenspielerinnen und anderen Spielen unterhalten könne, weil man selbst nicht fähig sei, mit eigenen Reden die Unterhaltung zu führen. Dann weist er aber auch auf die Schwierigkeiten und Gefahren jeder Interpretation der Dichter hin, "die man einerseits nicht befragen kann über das, was sie sagen, andererseits geht es den meisten, die sie in ihren Reden heranziehen, so, dass die einen behaupten, dies habe der Dichter gemeint, die anderen etwas anderes, da sie nämlich über eine Sache reden, die sie nicht beweisen (ξελγξαι) können" (347 e).

Sokrates spricht hier ein Problem an, mit dem jeder, der sich mit Dichtung beschäftigt, ständig lebt, das Problem der Vieldeutigkeit der dichterischen Aussage. Es ist eine Frage, die sich jeder Philologe immer stellen muss, wie weit nämlich die Zahl der möglichen Deutungen einer Textstelle abgegrenzt und möglichst auf eine beschränkt werden kann. Die Erfahrung lehrt, dass viele Stellen trotz der verfeinerten Methoden und deren umsichtiger Anwendung nicht eindeutig erklärt werden können, obwohl sie vom Dichter her als eindeutige Aussagen gemeint sind. Platon ist nicht Philologe, deshalb stellt er sich diese Frage nicht in dieser Form. Er geht aus vom Standpunkt des Dialektikers und stellt an die Dichter die Frage nach der Wahrheit ihrer Aussagen[39]. Dabei stößt er zunächst auch auf das Problem der Vieldeutigkeit dieser Aussagen; er hält jedoch nicht viel davon, nun mit philologischen Methoden an dieses Problem heranzugehen. Die einzig mögliche Lösung ist für ihn, die Dichter selbst zu befragen, um so von innen her, vom Subjekt der Aussagen, ihren eindeutigen Inhalt zu erfahren. Für die älteren Dichter ist das nicht möglich, für die lebenden muss Sokrates, wie er es in der Apologie (22 b) berichtet, die Enttäuschung erleben, dass sie über ihre eigenen Werke nicht klare Auskunft geben können. Außerdem macht Sokrates die Erfahrung, dass die Dichtungen, so wie sie ihm also kommentarlos vorliegen, Widersprüche enthalten. Es ist also notwendig, sie zu prüfen, d.h. kritisch zu betrachten. Um aber Kritik an einer Aussage üben zu können, muss man zuerst schon deren Gegenstand erkannt haben. Hat man aber die Erkenntnis, wozu braucht man dann noch die Dichtung, sie wird überflüssig. Platon sagt hier nichts über den allgemeinen Wert der Dichtung, er lässt diese Frage auf sich beruhen, nur die traditionelle Einschätzung der Dichtung als Quelle von Erkenntnissen lehnt er ab. Galten nämlich die Dichter bei den Griechen als Autoritäten, von denen man weithin unreflektiert seine Denkweise und seine Handlungen ableitete, so handelt es sich dabei tatsächlich nicht um eine wirkliche Erkenntnis, sondern um eine bloße Annahme, eine δόξα (Meinung), deren Richtigkeit oder Falschheit man nicht beweisen kann.

3. Konstruktive Kritik

a) Maßstäbe

Mit der Feststellung, dass die Dichtung keinen absoluten Erkenntniswert darstellt, wäre dieses Problem für einen Philosophen, d.h. für einen, der nach Erkenntnis strebt, eigentlich erledigt. Die Tatsache aber, dass Platon die Dichtung auch weiterhin in seine Betrachtung einbezieht, dass er sich in der Politeia und in den Nomoi ausführlich mit ihr beschäftigt, zeigt uns, dass seine Philosophie nicht im reinen Erkenntnisstreben aufgeht, sondern immer dabei auf das Handeln gerichtet ist, und Handeln ist nur möglich im Bereich der Realität des Lebens, dessen höchste Form Platon im Leben der Gemeinschaft des Staates sieht. Ein bedeutender Faktor im gesellschaftlichen Leben der Griechen war aber die Kunst, und auch Platon erkennt diesen Bereich an als eine Realität, die aus dem Leben der Polis nicht wegzudenken ist.


Dass diese Haltung nicht nur ein Zugeständnis an die in Platons Augen korrupten gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit ist, sehen wir aus dem Entwurf eines Staatsmodells in der Politeia: Sokrates gründet zunächst einen Staat, in dem die einfachen Bedürfnisse des Lebens befriedigt werden; dann, nach dem Einwand Glaukons, dies sei eher ein Staat von Schweinen, erweitert er die Stadt zu einer "üppigen", indem er u.a. auch Maler, Dichter und Musiker hereinnimmt. Obwohl er nun den ersten Entwurf als das "wahre", "gesunde" Staatswesen bezeichnet (II, 372e), zielt die spätere Reinigung des üppigen Staatswesens durch die Erziehung der Wächter nicht auf eine Wiederherstellung des ersten "gesunden" Staates, sondern die Grundlagen des "üppigen" Staates bleiben die Voraussetzung aller zur Reinigung vorzunehmender Maßnahmen und Einrichtungen. Das bedeutet aber, dass Platon diese Grundlagen als feste Gegebenheiten der menschlichen Natur ansieht, die man zunächst als solche annehmen muss, wenn man den Menschen und die Gemeinschaft zum Besseren verändern will durch Erziehung und Institutionen.


Eine dieser menschlichen Anlagen ist der Trieb und die Fähigkeit, Kunst zu schaffen und Kunst aufzunehmen, und so erhält die Kunst auch in dem gereinigten Modellstaat ihren Platz. Allerdings muss sie, um die ihr von Platon zugeteilte Funktion der Erziehung ausüben zu können, in neuer Weise geprägt werden. So stellt Platon eine Reihe von-τύποι (Normen) auf (Rep. 579 ff), nach denen die in seinem Staat zulässige, d.h. für die Erziehung der Wächter zur ανδρεία (Tapferkeit) und σωφροσύνη (Besonnenheit) geeignete Kunst beurteilt bzw. neu geschaffen werden soll. Sie sollen hier kurz zusammengestellt sein, damit der Umfang der Möglichkeiten, die dabei der Dichtung bleiben, deutlich wird. Platon geht nach den Stoffgebieten vor, die in der griechischen Dichtung dargestellt waren: Götter, Unterwelt, Heroen, Menschen.


Für die Darstellung der Götter gelten vor allem zwei Grundsätze (379c ff.): Sie sind gut, tun nichts Schlechtes und sind auch nicht Ursache von etwas Schlechtem; zweitens: Weil sie vollkommen gut sind, sind sie unwandelbar und ohne Trug. Die Unterwelt (386a ff.), das Dasein nach dem Tode, soll nicht als etwas Schreckliches dargestellt und der Tod nicht durch Weinen und Klagelieder verdunkelt werden. Denn dies würde nicht der Wahrheit entsprechen und wäre auch nicht geeignet, die Wächter von der Angst vor dem Tode zu befreien und sie zur Tapferkeit zu erziehen.

Die Heroen (391c ff.) stehen den Göttern am nächsten, da sie deren Kinder sind; sie nehmen eine Zwischenstellung ein zwischen Göttern und Menschen; daher sind sie mehr als die Menschen in der Lage, die Tugenden, besonders die für den Wächter erforderliche σωφροσύνη und ανδρεία, in hohem Maße zu verwirklichen. Sie sollen deshalb den Menschen als unmittelbare Vorbilder gegeben werden. In der Darstellung menschlicher Verhältnisse (392a ff.) soll deutlich werden, dass das Gerechte glücklich macht, das Ungerechte unglücklich, auch wenn es unentdeckt bleibt, dass das Gerechte also an sich gut ist und die Eudaimonia zur Folge hat.

Im Anschluss an diese Aufstellung von Prinzipien, nach denen die Dichter ihre Mythen bilden sollten, wendet sich Platon den Formen der Darstellung zu (392e); er unterscheidet drei Arten: die reine Erzählung (διήγησις), die Nachahmung (μίμησις) und die aus beiden Elementen gemischte Darstellung; der ersten Art wird der Dithyrambus zugeordnet, der zweiten das Drama, der dritten das Epos, da sich in diesen direkte Rede und indirekte abwechseln.

Nach dieser sachlichen Unterscheidung spitzt sich die Untersuchung sogleich auf die Frage nach der Zulässigkeit der Mimesis zu und, wie Glaukon voraussieht (394d), nach der Zulassung des Dramas im Staat. Hier stellt sich nun der Mimesis von vornherein ein Prinzip entgegen, das schon beim ersten Entwurf des Staatsmodells aus der φύσις (Natur des Menschen) hergeleitet wurde (370ab) und das später in der Definition der Gerechtigkeit formuliert wird (433ab): Dass jeder Einzelne das Seine tut. Mimesis aber würde bedeuten, dass man sich in andere Individuen einfühlt und versucht, deren Reden und Taten zu imitieren, man würde also nicht mehr tun und reden, was einem selbst zukommt, sondern das, was einer anderen realen oder fiktiven Person entspricht. Damit ist dem Drama schon prinzipiell die Existenzberechtigung entzogen. Platon zieht jedoch hier noch nicht diese Konsequenz, sondern untersucht zunächst die ethischen Bedingungen und Folgen der Mimesis, die dann erst den Grund für die Ablehnung bilden. Ein guter Mensch wird nicht andere nachahmen wollen, die unter seinem ethischen und gesellschaftlichen Rang stehen, sondern nur solche Menschen, die ihm ähnlich oder besser sind als er selbst. Je schlechter aber ein Mensch ist, um so größer wird der Kreis seiner Möglichkeiten, andere nachzuahmen, und um so mehr wird er bereit sein, alles Mögliche, auch Tierstimmen und Naturelemente nachzuahmen und zwar öffentlich. Der μέτριος ανήρ (der besonnene Mann) dagegen würde sich schämen, dies zu tun, und er würde auch nicht öffentlich auf dem Theater auftreten wollen[40]; seine Vortragsart wäre die des homerischen Epos, d.h. er würde erzählen, und nur, wenn er auf die Rede oder die Handlung eines αγαθός (Guten) stieße, würde er diese durch direkte Rede und Geste nachahmen, einen Schlechteren aber höchstens kurz oder zum Scherz. Damit ist die Ablehnung der mimetischen Darstellung gerechtfertigt, und so erfolgt am Schluss der Untersuchung (398ab) die feierliche Ehrung und Ausweisung der Dramatiker aus der Stadt.
Ebenso wie Form und Inhalt wird auch die musikalische Komponente der Dichtung im Hinblick auf das θος (den Charakter) untersucht. Allgemein wird die Forderung erhoben, dass Melos und Rhythmos dem Logos entsprechen, dieser seinerseits einem bestimmten Ethos, nämlich dem des σώφρων (Besonnenen) und νδρεος(Tapferen). Daher lässt Platon von den Tonarten, den Musikinstrumenten und den Rhythmen nur die zu, die dieses Ethos auszudrücken vermögen, während alles Weichliche oder allzu Leidenschaftliche ausgeschlossen wird.

b) Konsequenzen in Bezug zur griechischen Dichtung


Während Platon alle diese Maßstäbe für die Dichtung aufstellt, zeigt er jeweils an einigen Beispielen aus der griechischen Dichtung, wie die einzelnen Dichter gegen die aufgestellten Grundsätze verstoßen oder auch mit ihnen übereinstimmen. Dies zu untersuchen, ist in den Nomoi (802a-c) Aufgabe eines Kollegiums älterer Männer, die die alten Werke der Dichtung nach den Maßstäben des Gesetzgebers kritisch prüfen, die völlig unbrauchbaren Werke verwerfen, die brauchbaren aussuchen und, wenn es nötig ist, sie zusammen mit dichterisch und musikalisch begabten Menschen überarbeiten.

Wenn wir nun unsererseits versuchen wollten, die uns erhaltene Literatur vor Platon nach seinen Prinzipien zu prüfen, so würde sich zeigen, dass sehr viel im strengen Sinne nicht damit übereinstimmt. So wäre z.B. die Ilias im Ganzen, da sie ja auf dem Grundthema des Streites zwischen zwei Heroen, Achill und Agamemnon, aufbaut, zu verwerfen, selbst wenn sie viele brauchbare Details enthält. Wenn wir hier nun die grundsätzliche Ablehnung des attischen Dramas hinzunehmen, so fiele schon ein beträchtlicher Teil des ganzen Repertoires weg, vor allem der Teil, der zumindest in Attika die breiteste Wirksamkeit entfaltete. Aber auch von der übrigen Epik und auch von der Lyrik würde nach den sachlichen Kriterien noch viel unter Platons ablehnendes Urteil fallen[41]. Ja noch mehr: Die griechische Dichtung im Ganzen beruht auf Mythen, die auf einer Auffassung von Göttern und Heroen gründen, die mit Platons Prinzipien kaum vereinbar sind. Zwar kommt auch der Glaube, dass die Götter gut sind zu den Menschen, dass sie unwandelbar und ohne Trug sind, in der Dichtung zum Ausdruck - bei Pindar, Aischylos, Sophokles ließe sich manches dazu anführen -aber dies ist nur  e i n e  Seite der religiösen Vorstellungswelt.

Platon steht an sich der überlieferten Mythenwelt offener gegenüber als die sophistischen Aufklärer, die den Mythos vom Standpunkt des Rationalen ablehnen oder auch zu erklären versuchen. Im Phaidros (229b - 30a) erläutert Platon seine Haltung am Beispiel des Mythos vom Raub der Oreithyia durch den Gott des Nordwindes Boreas. Er nimmt den überlieferten Glauben einfach hin (πειθόμενος δ τ νομιζομέν περ ατν [annehmend, was darüber allgemein geglaubt wird) und lässt die Frage nach dessen αλήθεια (Wahrheitsgehalt). auf sich beruhen; diese Frage erscheint ihm unangemessen und unwichtig angesichts der großen Aufgabe der menschlichen Selbsterkenntnis. Auch in der Mythenkritik der Politeia lässt Platon die Frage nach der Wahrheit der Mythen offen, wichtig ist für ihn nur der erzieherische Wert eines Mythos[42].

Was bleibt aber übrig, wenn wir nach den Maßstäben Platons die Mythen aussondern? In der statischen, idealen Auffassung Platons von Göttern und Heroen ist kein Platz für Konflikte zwischen diesen Wesen, für die Unterdrückung der Titanen durch Zeus, für die Auseinandersetzung zwischen höheren und niederen Gottheiten, wie sie in den Eumeniden des Aischylos zwischen Apollon und den Erinyen dargestellt ist, es gibt keine Metamorphosen der Götter, auch kein Ödipusschicksal, keine Oresttragödie. Wenn wir aber alle Mythen eliminieren, in denen diese Züge thematisch werden, so entziehen wir dem griechischen Epos und der Tragödie, die doch von der Darstellung der überlieferten Götter- und Heroenschicksale leben, fast völlig den Boden.

Wenn aber in diesem Bereich die epische und dramatische Darstellung unmöglich wird, so bleibt nur die statische Haltung des Lobes in Form von Hymnen und Enkomien[43]. Für unsere moderne Literatur bedeutete das sehr wenig, die Griechen aber hatten dafür schon früh feste Formen gefunden und auch einen Ort, in dem diese Dichtungsgattungen fest verankert waren, nämlich den Kult. Die zahlreichen öffentlichen und privaten Feste waren ein weites Feld für die Dichtung, deren Sprache auch Platon zum Preisen und Anrufen der Götter für einzig adäquat hielt.

c) Modelle

Außer diesen auf das Kultische beschränkten Möglichkeiten öffnet Platon der Dichtung noch einen weiteren Bereich, nämlich die Darstellung rein menschlicher Verhältnisse, hier gibt er, wie wir aus der bereits zitierten Stelle der Nomoi (811od) sehen, den Dichtern durch sein eigenes Werk ein Modell.

In den Richtlinien für die Darstellung des Menschen im 3. Buch der Politeia (392a-c) stellt Platon die Forderungen auf, die durch die weitere Untersuchung über das Wesen der Gerechtigkeit unterstützt und ausgeführt werden, dass nämlich das Gerechte für den, der es tut, nützlich ist, ihn glücklich macht und angesehen bei Göttern und Menschen (vgl. X, 612b -13e). Nun lehrt aber die Erfahrung, dass die Lebenswirklichkeit dieser Forderung weitgehend nicht entspricht, dass nämlich für die öffentliche Anerkennung und das äußere Glück oft ganz andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen als die Gerechtigkeit; diese Erfahrung wird von Platon auch nicht ignoriert, wie u.a. die Reden des Glaukon und Adeimantos im 2.Buch zeigen. Bedeutet denn also die platonische Forderung etwa, dass die Dichter nur eine einseitige, idealisierte Darstellung des Lebens und der Menschen geben sollen?[44] Dem würde in gewisser Weise auch entsprechen, dass bei der Behandlung der Mimesis, wie wir gesehen haben, nur die Nachahmung guter und vorbildlicher Charaktere erlaubt wurde.

Wie steht es aber damit in Platons Werk selbst? Auch hier handelt es sich um mimetische Darstellungen, und selbst wenn in einigen Dialogen das Hauptgespräch in eine Rahmenszene als Erzählung eingelegt ist, treten die rein erzählenden Partien stark zurück und die den Gesprächsverlauf andeutenden Formeln sind oft auf ein dezentes φη, επον (sagte er, sagte ich) u.a. reduziert, die nicht mehr bedeuten als knappe Regieanweisungen; das Dramatische bleibt auch hier vorherrschend. Die Dialoge sind allerdings nicht Dramen, sie stellen keine Handlung in dramatischem Sinne dar. Wie aber die Personen eines Dramas durch ihre Handlungen und die in ihren Reden zutage tretenden Entscheidungen charakterisiert werden, so werden in Platons Dialogen die an der geistigen Auseinandersetzung beteiligten Personen durch ihre Äußerungen als Träger einer bestimmten Geistesrichtung charakterisiert, d.h. sie dienen nicht als beliebige, anonyme Anwälte einer Lehrmeinung, sondern sie werden durch die Darstellungskunst Platons meist zu wirklichen Charakteren; deshalb kann er mit gutem Recht reale bekannte Persönlichkeiten auftreten lassen. Nun finden wir in den Dialogen aber neben vorbildlichen Charakteren wie z.B. Sokrates selbst auch ausgesprochen schlechte, Träger einer falschen und verderblichen Gesinnung; als solche werden insgesamt die Sophisten dargestellt und oft noch schärfer ihre Anhänger, Polos, Kallikles oder auch ein Euthyphron. Sie werden teils mimetisch unmittelbar eingeführt, teils in der Erzählung; aber auch in der erzählenden Form geht Platon nicht nach dem Grundsatz vor (Rep. 396c-e), dass ein anständiger Mann, wenn er etwas erzählt, sich nur dann der direkten Rede bedient, wenn es sich um die Rede eines ihm ähnlichen oder besseren Menschen handelt. Im Protagoras bricht er immer wieder aus der Erzählform aus, um die Reden in direkter Form wiederzugeben, wie auch in anderen Dialogen Leute wie Gorgias, Hippias u.a. von vornherein mimetisch eingeführt werden. Dabei geht die Nachahmung oft bis in stilistische Details.
Wie dieses Verfahren des Schriftstellers Platon mit seinen Grundsätzen für die dichterische Darstellung des Menschen zu vereinbaren ist, sehen wir an der Art, wie Platon diese schlechten Charaktere einführt. Nehmen wir als Beispiel den Dialog Protagoras, an dem sich Platons Kunst vielleicht am deutlichsten zeigt.

Die sichere Position des großen Lehrers wird hier zunächst durch das philosophische Gespräch erschüttert, seine Behauptungen von Sokrates widerlegt, sein Anteil an der Gesprächsführung immer mehr zurückgedrängt. Dennoch vermeidet es Platon, dieses für Protagoras ungünstige Ergebnis des Gesprächs sinnfällig zu machen; er hätte es als schlechtes, unwirksames Kunstprinzip angesehen, Sokrates am Schluss als Sieger, Protagoras als Unterlegenen offen herauszustellen, es entspräche auch nicht seiner philosophischen Absicht. So lässt er Sokrates die Verantwortung für den aporetischen Schluss des Dialogs zusammen mit Protagoras übernehmen (361 a) und setzt diesen noch in die Lage, als großer berühmter Mann dem Sokrates von oben herab eine lobende Anerkennung zu spenden. Die eigentliche Charakterisierung des Protagoras liegt erst auf einer zweiten Stufe, in die allerdings die Wirkung der philosophischen Widerlegung des Sophisten eingebaut ist.

Auf dieser zweiten Stufe spielt die Ironie eine beherrschende Rolle. Sie besteht darin, dass Protagoras von Anfang bis Ende des Werkes als der große, erhabene, selbstherrliche oder zumindest selbst-bewusste Lehrer gezeigt wird, als der er vielen Griechen seiner Zeit galt. Dieses Bild des Sophisten erscheint in dem Einleitungsgespräch, in der Schilderung des begeisterten jungen Hippokrates und des Eintritts in das Haus des Kallias, es zeigt sich ferner in dem Stil der Reden, die Platon dem Protagoras in den Mund legt, und in der von Bewunderung und Hochachtung getragenen Haltung, die Sokrates in seinen Äußerungen gegenüber Protagoras ausdrückt. Alle diese Darstellungsmittel, durch die die Persönlichkeit des Sophisten so stark hervorgehoben wird, werden jedoch derart übertrieben, dass ihr ironischer Charakter schon dadurch allein ersichtlich wird. Die volle sinnfällige Wirkung erhält diese Ironie dann durch den Verlauf des Gesprächs, in dem die durch die künstlerischen Darstellungsmittel aufgeblähte Größe förmlich ausgehöhlt wird.

Es gelingt also Platon, auch durch die Darstellung von Charakteren, die er völlig ablehnt, die menschliche und philosophische Haltung, die er für die beste und erstrebenswerte hält, deutlich zu machen, und zwar nicht, indem er den Sophisten als schlecht unmittelbar zeigt, Sokrates dagegen als Kontrast dazu, sondern indem er den Protagoras so darstellt, wie er wirklich ist, jedenfalls wie er Platon erscheint, in all seinem Glanz und seiner Würde, die aber durch die ständige Ironie völlig aufgehoben wird. Dadurch erreicht Platon die stärkste künstlerische Wirkung, die aber - und das ist sehr wichtig - nie Selbstzweck ist, sondern dazu dient, die eigene Vorstellung vom wahren Philosophen deutlich zu machen.
Die Frage, die wir oben stellten, ob Platons Forderungen eine einseitige, idealistische Darstellung der Wirklichkeit implizieren, beantwortet Platon durch seine eigenen Werke dahingehend, dass es möglich ist, die Lebenswirklichkeit realistisch zu zeigen, durch die Art der Darstellung aber diese Wirklichkeit zugleich zu deuten und dadurch indirekt auf eine ideale Ordnung hinzuweisen. Der Vorwurf gegen Platon, dass er Kunst nur unter fremden, nämlich ethischen Gesichtspunkten sehe, gilt also nicht, insofern er nämlich in seinem Werk auf Grund  kunstimmanenter Prinzipien ein Modell aufstellt, das zeigt, wie ethische Forderungen dichterisch zu verwirklichen sind.
Wenden wir uns nun der griechischen Dichtung zu und fragen hier nach Ansätzen und Möglichkeiten einer solchen Konzeption, so stoßen wir auf formale Strukturen, in denen sich diese platonische Darstellungsweise ohne weiteres einfügen ließe. Denn während im Epos ja dem Dichter alle Freiheiten offenstehen, eine Person und ihre Handlungen durch die Darstellungsart oder sogar durch direkte Stellungnahmen zu charakterisieren, bietet auch gerade die griechische Tragödie in ihrem Gegenüber von Chor und Schauspieler ein ausgezeichnetes Mittel, die Handlung durch den Chor zu deuten bzw. sie auf eine höhere religiöse und menschliche Ebene zu projizieren. Diese klärende Funktion des Chores lässt sich in vielen Tragödien aufzeigen, sehr deutlich z.B. in den großen Chorliedern des "Agamemnon", in denen die Frage nach Recht und Unrecht und nach den Ursachen des Geschehens immer wieder unerbittlich auftritt. Allerdings ist dies nicht die einzige, oft nicht die hauptsächliche Funktion des Chores, denn oft tragen seine Äußerungen nur dazu bei, die tragische Situation zu verschärfen, indem der Chor durch seine verständnislose Haltung die Einsamkeit des Helden vergrößert wie etwa in der Situation des Eteokles oder der sophokleischen Elektra und Antigone.

Platon hat diese Möglichkeiten, die in der Form der griechischen Tragödie lagen, und ihre Entfaltung in seinem Sinne nicht in Erwägung gezogen. Ich glaube aber, dass wir zeigen konnten, in welcher Hinsicht die Tragödie und auch das Epos sehr gut mit den platonischen Prinzipien vereinbar wären. Dass er dennoch die Tragödie konstant und das Epos weitgehend ablehnt, muss also andere Gründe haben, auf die wir später eingehen werden.

III. Die erzieherische Funktion der Kunst

1.Τκαλόν (das Schöne). Ontologische Fixierung der Kunstkriterien


Der große Abschnitt der Politeia über die musische Erziehung gipfelt in der fundamentalen Forderung (403c): δε δ που τελευτν τ μουσικ ες τ το καλο ρωτικά (das Musische muss aber letztlich zur Liebe des Schönen führen). Damit werden wir auf einen Begriff geführt, der in der neuzeitlichen Kunsttheorie eine wesentliche Rolle spielt[45] , denn seit im 19. Jh., im Gedanken des l'art pour l'art, der Sondercharakter der künstlerischen Form gegenüber allen anderen Äußerungen des Geistes so stark hervorgehoben wurde, sind wir gewohnt, in der schönen Form das Wesentliche des Kunstwerks zu sehen, wobei sich allerdings die inhaltliche Bestimmung dessen, was als schön empfunden wird, erheblich geändert hat. Vor dem 19. Jh. konnte man zu Recht von Stilepochen sprechen, deren Kunstformen in ihrer Zeit allgemeine Gültigkeit beanspruchten. Dies äußerte sich besonders darin, dass man die früheren Epochen nur vom eigenen Standpunkt aus beurteilte, indem man Verwandtes oder Fremdes darin sah. Erst im 19. Jh. setzte mit der Wiederentdeckung des Mittelalters eine Relativierung des Stilbegriffs ein, die dann allmählich dazu führte, die Kunst aller Epochen und aller Kulturkreise als gleichwertig anzuerkennen, und die für die moderne Kunst die Möglichkeit schuf, die vielfältigsten Individualstile nebeneinander zu entwickeln.

Diese weitgehende Relativierung des Begriffs des Schönen in der Kunst stellt uns heute vor die schwierige Frage, ob es unter diesen Umständen überhaupt möglich ist, zu einem begründeten und damit allgemein gültigen Werturteil über ein Kunstwerk zu kommen. Leugnen wir, wie es vielfach getan wird, grundsätzlich die Möglichkeit eines sicheren Werturteils und betrachten wir das Urteil über Kunst nur als eine Funktion des persönlichen Geschmacks, so verlegen wir die Qualität des Schönen ganz in die Beziehung des Kunstwerks zum aufnehmenden Subjekt; damit wäre es aber möglich, alles und jedes als schön und als Kunst zu bezeichnen. Wenn wir aber andrerseits bereit sind, etwa zwischen einem Lied von Hugo Wolf und einem Eintagsschlager einen wesentlichen Wertunterschied anzuerkennen, so wird es uns auch hier äußerst schwierig, dieses Urteil mit Sätzen zu begründen, die allgemein anwendbar wären. Wir können in unseren Kunsturteilen von der Struktur sprechen, von Komposition, von Detailausarbeitung, von Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt, aber eine gültige Begründung, warum das eine schön sei, das andere nicht, ist uns unmöglich. Sie ist unmöglich, weil es wahrscheinlich keine umfassende Definition des Begriffs des Schönen gibt, nach der wir Maßstäbe für die Beurteilung eines jeweiligen Objekts gewinnen könnten. In diesem Mangel stellt sich aller Kunstwissenschaft und Kunstkritik ein ewiges Problem, das auch durch die mathematischen Bestimmungsversuche eines Max Bense nicht gelöst werden wird.

Es ist wichtig, sich dieses Problem, das immer aktuell sein wird, solange man sich mit Kunst beschäftigt, bewusst zu machen, wenn wir Platons Auffassung Begriff des Schönen eine zentrale Bedeutung; zwar verknüpft er ihn nicht so eng mit dem Wesen der Kunst, wie wir gewohnt sind zu tun, aber auch für ihn besteht hier ein Zusammenhang.

Die Frage nach dem Wesen des Schönen bildet das Thema des "Größeren Hippias"[46]. Nach drei völlig verfehlten Definitionsversuchen von seiten des Hippias bringt Sokrates seinerseits nacheinander drei Vorschläge vor, erstens: Das Schöne ist das πρέπον (das Passende).(293e), eine Definition, die Aristoteles zweimal zur Illustration seiner logischen Untersuchungen anführt[47]. Nun ist das Verbum πρέπειν in der Bedeutung „sich ziemen, passen“ eine sehr unbestimmte Bezeichnung, da es ja nur ganz allgemein ein Verhältnis ausdrückt, das erst genauer bestimmt werden kann, wenn das Subjekt und das Bezugsobjekt gegeben ist. In der angeführten Definition ist dies nicht der Fall, τό πρέπον  ist absolut gesetzt, und der Satz wird an seiner Stelle auch nicht weiter ausgeführt. Der Begriff des πρέπον taucht jedoch schon früher im Dialog auf, und hier können wir seine Bedeutung deutlich erfassen.
Hippias hatte in seinem zweiten Definitionsversuch das Gold als das Schöne bezeichnet; daraufhin führte ihn Sokrates zu der Erkenntnis, dass Gold oder andere edle Materialien nur dann schön sind, wenn sie "passen", er erläutert diesen Sachverhalt am Beispiel der Athena Parthénos des Phidias (290a-d). Der Künstler wählte für die Wiedergabe der Augen der Göttin nicht das Material, das Hippias als das Schönste bezeichnet hatte, sondern er nahm dazu Elfenbein und für die Pupillen wählte er einen Stein, der dem Elfenbein möglichst ähnlich war. Wenn diese Auswahl der Materialien nun als πρέπων (passend) bezeichnet wird, so bedeutet das zweierlei: Sie ist einerseits passend in Bezug auf den darzustellenden Gegenstand, das Auge, andrerseits in Bezug zueinander, indem der Stein und das Elfenbein farblich aufeinander abgestimmt sein sollen; das πρέπον  ist also hier einerseits eine Kennzeichnung des Verhältnisses von Darstellung und dargestelltem Gegenstand, das Platon an anderer Stelle als ρθόθης τς μιμσεως (Richtigkeit der Nachahmung) bezeichnet, andrerseits ist es ein Merkmal der Struktur, der Komposition, das Platon meist συμμετρία (Symmetrie) nennt.

Die Definition des Schönen als πρέπον wird schon hier (290dff.) abgelehnt als unzureichend, da ja nicht jeder Gegenstand, dem nur das πρέπον zukommt, auch schon als schön bezeichnet werden kann. An der späteren Stelle, an der Sokrates wieder auf diese Definition zurückgreift (293e), wird sie wieder verworfen, nachdem Hippias den Begriff des πρέπον auf den Bereich der Erscheinung beschränkt, während ja Sokrates nach dem Sein des Schönen fragt.
In einem zweiten Versuch (295aff.) setzt Sokrates das Schöne gleich mit dem Brauchbaren (χρήσιμον) und weiterhin mit der δύναμις, der Fähigkeit, etwas zu bewirken. Man beachte hier, wie diese Bestimmung dem funktionalen Begriff der αρετή (Tugend) nahekommt. Außerdem ist bemerkenswert, dass Sokrates unter vielen anderen Beispielen, die als χρήσιμον  und δυνατόν (fähig) bezeichnet werden, auch die μουσική anführt - man fragt sich, wozu diese "brauchbar" sei. Eine Antwort erfolgt in der Ergänzung der Definition (296dff.): Das Schöne ist nicht das Brauchbare schlechthin, sondern nur τὸ χρήσιμόν τε καὶ τὸ δυνατὸν ἐπὶ τὸ ἀγαθόν τι ποιῆσαι, d.h. τ φέλιμον (das Brauchbare und da Fähige, etwas Gutes zu tun, d.h. das Nützliche). Aber auch diese Definition wird abgelehnt, da in ihr das Schöne als Ursache des Guten erscheint und damit von diesem verschieden wäre; die Identität von καλόν und αγαθόν (gut) war aber für Platon eine unumstößliche Überzeugung.
Der dritte Bestimmungsversuch des Sokrates lautet (297e): τ καλν στι τ  δι'κος τε κα  δι'ψεως δ(das, was uns Vergnügen macht, nicht jede Art von Lust meine ich, sondern das wäre das Schöne). Aber diese Definition scheitert sofort an dem formalen Fehler, dass in ihr zwei Merkmale (δι'κος  und δι'ψεως vermöge des Gehörs und des Gesichtes,) additiv zusammengestellt werden. Es muss also weiter gefragt werden, was diesen beiden δοναί (Vergnügen) gemeinsam ist. Sokrates sieht dieses Gemeinsame in dem ωφέλιμον (nützlich), das Schöne wird also als δονή φέλιμος (nützliches Vergnügen) definiert. Damit schließt er an den zweiten Definitionsversuch an und scheitert dabei an denselben Schwierigkeiten wie dort; der Dialog endet in der Aporie.
Unseren heutigen Vorstellungen vom Schönen im Bereich der Ästhetik kommt von den drei Definitionsversuchen vor allem der erste Vorschlag des Sokrates nahe, der das Schöne als das πρέπον (das Passende) bestimmt, da er sich auf das Formale bezieht, in dem wir immer wieder eine objektive Grundlage für unser ästhetisches Werturteil zu finden glauben. Platon kommt in seinen Dialogen oft auf diese Begriffe der Ordnungsstruktur zurück; so schreibt er z.B. im Phaidros (268cd), dass Sophokles oder Euripides einen Menschen auslachen würden, wenn er vorgäbe, die Kunst der Tragödie lehren zu können, wenn er verstehe, jammervolle oder schreckenerregende und drohende Reden zu dichten, während doch die Tragödie nichts anderes sei als die τούτων σύστασις πρέπουσα λλήλοις τε κα τ λ συνισταμένη (eine solche Zusammenstellung dieser einzelnen Stücke, wie sie einander und dem Ganzen angemessen sind). Kurz zuvor (264c) wurde eine ähnliche Formulierung auf die Komposition einer Rede bezogen; sie wurde mit einem Lebewesen verglichen, sie muss Anfang, Mitte und Ende haben, wobei die Teile untereinander und zum Ganzen "passen" müssen. Wir denken hier sogleich an die Kapitel 7 und 8 der aristotelischen Poetik, die über Einheit und Ganzheit des Handlungsaufbaus der Tragödie handeln.
Allein mit diesen Begriffen des πρέπον (passend), der   συμμετρία (Symmetrie), des κόσμος (Ordnung) lässt sich jedoch das Wesen des Schönen noch nicht bestimmen. Ein zweiter Aspekt kommt notwendig hinzu, das δ(angenehm), das die Wirkung des Schönen auf den Menschen bezeichnet. Hiermit kommt aber ein weitgehend subjektives Element hinzu, da die Menschen je nach ihrem Ethos ganz Verschiedenes als δ aufnehmen. Diese Abhängigkeit des Urteils über das Schöne vom Ethos zeigt Platon am Anfang des dritten Buches der Politeia (401e), und der gleiche Gedanke drückt sich auch in der Zuordnung der Vorliebe verschiedener Lebensalter zu bestimmten Dichtungsgattungen aus (Nom. 658cd): Bei einem Wettbewerb würden die älteren Kinder die Komödie bevorzugen, die Jünglinge, die gebildeten Frauen und wahrscheinlich die große Masse die Tragödie, während die Alten dem Epos zuneigten.
Ein allgemein gültiges Kriterium lässt sich also aus dem Begriff des δ am wenigsten herleiten, es muss etwas hinzukommen. Da es sich hier um ein subjektives Element handelt, nimmt Platon zur Fixierung des Urteils auch eine bestimmte Qualität des Subjekts als Kriterium, .indem er erklärt, dass das, was den alten, d.h. reifen und weisen Menschen gefällt, relativ am schönsten ist, nicht nur jedoch, weil diese vielleicht besonders sachverständig sind in Bezug auf Kunst, sondern auf Grund ihrer αρετή (Tugend). Dadurch bindet er jedes ästhetische Urteil an ein absolut gültiges Kriterium, nämlich an das γαθόν (das Gute).
Für unsere Vorstellungen überschreitet er damit den Bereich der Ästhetik; dies bedeutet jedoch nicht, wie es oft fälschlich verstanden wird, dass Platon die Ästhetik der Ethik unterordnet, für ihn gibt es nicht diese uns so geläufige Trennung in autonome Seinsbereiche. Für ihn ist die Idee des γαθόν ja die ontologische Ursache alles Seins. Dadurch, dass er den Begriff des Schönen mit diesem höchsten Seinsprinzip aufs engste verbindet, indem z.B im Philebos (64e-65a) γαθόν sich in den drei Gestalten des κάλλος, der συμμετρία und der λήθεια zeigt, wird zwar der Begriff des Schönen über das Ästhetische hinausgehoben, andrerseits aber wird es dadurch zu einem Aspekt alles Seins. In diesem Sinne ist denn auch die anfangs zitierte Forderung zu verstehen, dass die Kunst zur Liebe des Schönen führen müsse: Das Schöne ist hier nicht in einen autonomen Bereich der Kunst integriert, wie es erst in unserer Ästhetik geschieht, sondern sie ist über die Vermittlung des Schönen ausgerichtet auf das höchste Sein, das γαθόν (das Gute)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


2. Irrationalität der Kunstwirkung


Das Missverständnis, Platon habe die Kunst der Ethik untergeordnet, rührt daher, dass wir auf Grund unserer Vorstellungen immer wieder den Begriff der ρετή (Tugend) und des αγαθόν (gut) rein ethisch auffassen. Für Platon aber ist das αγαθόν, wie wir gesehen haben, das höchste Seinsprinzip, und Areté ist die Fähigkeit, sich diesem zu nähern. Auf dieses höchste Prinzip ist alles ausgerichtet: Denken, Handeln und Empfinden; es gibt also keine davon unabhängigen, autonomen Bezirke, eine gradmäßige Unterscheidung der menschlichen Fähigkeiten liegt nur darin, dass eine ihrer Natur nach der Idee des Guten näher kommt als andere. So ist denn z.B. die Philosophie der Kunst übergeordnet, weil sie geeignet ist, den Menschen näher an die Idee heranzuführen als die Kunst. Das heißt jedoch nicht, dass Platon die Kunst unterdrücken wolle zugunsten der Philosophie, sondern beides erhält die ihr entsprechende Aufgabe in Bezug auf die Areté.

Die philosophische Grundlage für die Stellung der Kunst bildet die Auffassung Platons von der wesentlichen Bedeutung des καλόν, wie sie in der Diotimarede des Symposion und im Phaidros dargelegt wird. Das αγαθόν (das Gute) offenbart sich uns in der Idee des Schönen, die durch ihre Abbilder in der sichtbaren Welt wirksam ist; von ihr geht der stärkste Impuls aus, nach der Welt der Ideen zu streben, da sie im Menschen den Eros weckt, der immer ein ρως το καλοῦ  (Liebe zum Schönen) ist.

Auf Grund dieser Vorstellung kann Platon der Kunst den Platz anweisen, der ihr ihrem Wesen nach zukommt. Sie ist, wie wir oben[48] gezeigt haben, nicht geeignet, den Menschen zur Erkenntnis zu führen, sie kann ihn auf dem Stufenweg des Schönen, der in der Idee gipfelt, nicht bis zum Ende begleiten, sondern bleibt dort zurück, wo die Welt der Erscheinung überschritten wird, dort nämlich, wo die επιστήμη (Wissenschaft) beginnt (Symp. 210c), Was uns heute selbstverständlich scheint, dass nämlich die Kunst nicht in der Art der Wissenschaft Erkenntnisse vermittelt, war für die Zeit Platons ganz und gar nicht selbstverständlich, sonst hätte sich Platon nicht immer wieder und mit allen Mitteln seiner Kunst gegen die Dichter wenden müssen, um mit Nachdruck deutlich zu machen, dass bei ihnen die wahre Weisheit nicht zu finden sei.
Hier ist es nun für die richtige Auffassung der Philosophie Platons von höchster Wichtigkeit, immer wieder auf die Hinwendung zur Realität des Staates hinzuweisen, die von den Philosophen gefordert ist, nachdem sie die höchste Stufe der Erkenntnis der Idee des Guten erreicht haben. Dieser politische Bezug war schon für die Tätigkeit des Sokrates bestimmend[49]; für Platon bildet er den Anstoß seines umfassenden praktischen und theoretischen Bemühens um die Schaffung eines neuen Staates, dem auch die Gründung der Akademie vor allem diente. Voraussetzung dieser Bemühungen war die Erkenntnis, dass der Einzelne nur in der Gemeinschaft zur Vollendung gelangen kann. Deshalb kann er die Entwicklung der Einzelnen nicht dem Spiel der verschiedensten gesellschaftlichen Einflüsse überlassen, wo es nur auf Grund einer göttlichen Fügung (θεα μορα) möglich ist, dass der Einzelne zur Areté gelangt. Die Frage nach den Möglichkeiten einer gelenkten Entwicklung des Ethos muss daher das Thema aller pädagogischen Untersuchungen sein.
Die gezielte Einwirkung auf die Komponenten des Ethos, die φύσις (Natur) und das θος (Sitte), beginnt mit der öffentlichen Regelung der Heiraten und wird dann fortgesetzt durch die Einrichtungen der Erziehung. In seinen Erziehungsgedanken wird Platon nun von zwei grundlegenden Einsichten geleitet, dass nämlich die Form der rationalen Bildung erst in einem sehr vorgeschrittenen Stadium der menschlichen Entwicklung einsetzen kann, dass aber andererseits die Zeit vor dem Erreichen dieser Stufe von höchster Bedeutung ist, da in ihr schon die Grundhaltungen festgelegt werden, die für das ganze spätere Leben entscheidend sind[50] . Die wesentliche Bedeutung dieser frühen Entwicklungsstufe erfordert also eine durchgehende Gestaltung der Erziehung von Geburt an, die mit den späteren Bemühungen um die höchste Erkenntnis und Areté nicht im Widerspruch stehen darf, es muss also vermieden werden, dass ein Bruch entsteht zwischen der Prägung, die der Mensch in seiner Jugend erhält, und der späteren Erkenntnis oder dass die Möglichkeiten dieses Erkennens dadurch überhaupt schon verbaut werden.
Voraussetzung für die Gestaltung der ersten Erziehung ist die psychologische Einsicht, dass für das Kind die Empfindungen von Lust und Schmerz die entscheidende Rolle spielen; in ihnen erhält nämlich das Kind zuerst eine Vorstellung von Tugend und Schlechtigkeit, zu der erst viel später Logos (Vernunft) und Phronesis(Einsicht) hinzutreten, um die wahre Areté zu bilden. Vielen Menschen wird diese letzte Stufe gar nicht mehr zuteil; in der abgeklärten und etwas pessimistischen Sprache der Nomoi heißt es (II,653a):".... glücklich aber, wem Einsicht und gesicherte wahre Vorstellungen noch mit dem Alter zuteil werden; vollkommen ist wahrlich der Mensch, der dies und die darin liegenden Güter alle besitzt."
Die Erziehung in diesem Bereich der μουσική muss also darin bestehen, durch das Ansprechen dieser Empfindungen den Menschen zum Guten hin zu beeinflussen, d.h. ihm das Gute in der Form des δ(angenehm) nahezubringen und einzuprägen. Das Medium aber, das Platon hierfür am besten zu sein scheint, ist die Kunst, denn sie ist ja am ehesten geeignet, Empfindungen zu wecken und zu entfalten, dabei aber zugleich mit ihrer spezifischen Wirkung als δονή (Vergnügen) auch andere Werte zu vermitteln, wie z.B.συμμετρία, ρμονία, ερυθμία (Symmetrie, Harmonie, Eurythmie) aber darüber hinaus auch Vorstellungen von allen Bereichen des Lebens.

Hier muss nun aber sogleich schon ein charakteristischer Zug der platonischen Kunstauffassung zur Sprache kommen, der eine der wesentlichen Voraussetzungen für die einschneidenden Maßnahmen Platons zur Reinigung der Kunst bildet, nämlich die Vorstellung von der Eindeutigkeit der Wirkung von Kunst. Während es auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag, dass nur die Darstellung eines tapferen oder gerechten Menschen im Zuschauer die Neigung zur Tugend wecken und entfalten könne, zeigt sich die Erfahrung in dieser Hinsicht viel komplexer; so ist denn auch schon Aristoteles in diesem wesentlichen Punkt von seinem Lehrer abgewichen. Indem er nämlich die Wirkung der Tragödie definiert als δι'λέου κα φόβου περαίνουσα τήν τν τοιοτων παθημάτων κάθαρσιν (Durch Mitleid und Furcht vollbringt sie die Reinigung [Katharsis]solcher Leidenschaften) (Poet.6,1449b27), gibt er zwar ebenfalls der Überzeugung Ausdruck, dass die Tragödie auf das Ethos des Menschen eine Wirkung ausübt, nicht jedoch in der Weise, dass ihm bessere Inhalte suggeriert werden, sondern die πάθη (Leidenschaften) sollen eben dadurch gereinigt werden, dass durch die Dichtung, aber ganz abgesehen zunächst von deren konkreten Inhalten, im Zuschauer έλεος und φόβος (Mitleid und Furcht) erregt werden.

Platon aber sieht gerade darin die große Gefahr - und es ist einer der Hauptgründe für den Ausschluss der Tragödie aus dem Staat - dass in den Zuschauern diese πάθη erregt werden, an deren homöopathische Wirkung er nicht glaubt. Für ihn steht fest[51], dass ein anständiger Mensch, der in seinem Leben eigene Unglücksfälle gelassen zu tragen gewohnt ist, von dieser ehrenhaften Haltung abkommt, wenn er im Theater durch Einfühlung in das Schicksal fremder Personen dahin gebracht wird, sich dem έλεος hinzugeben und dabei noch den Dichter zu loben, dass er ihn in diesen Zustand versetzte. Die Erregung von Leidenschaften hat also für Platon nur deren Stärkung zur Folge, und so muss er die Katharsis im aristotelischen Sinne ablehnen. Aber selbst wenn er sie als eine mögliche Wirkung akzeptieren würde, könnte die Dichtung nicht mehr die Punktion in der Erziehung ausüben, die er ihr zugedacht hat, denn dazu muss sie eindeutig in eine bestimmte positive Richtung wirksam sein können.

Daher fordert er eine Kunst, die Vorbilder schafft, d.h. die Darstellung vorbildlicher Charaktere oder, bei der Darstellung schlechter Charaktere, eine strenge Durchführung des Prinzips der poetischen Gerechtigkeit[52]. '

3. Die Kunst in Staat und Gesellschaft


Wenn wir die im vorigen Kapitel angeführte Stelle der Nomoi weiter verfolgen (653cd), muss uns auffallen, dass Platon im Zusammenhang mit der Erziehung der Menschen auf Grund von δονή (Freude) und λύπη (Trauer) die Götter einführt. Das Fest nämlich, der Ort, wo die Menschen mit den Göttern verkehren, erweist sich als der von den Göttern selbst geschenkte Rahmen, in dem die Empfindungen, die im Alltag notwendig verkümmern, gepflegt und entwickelt werden. Als Ordner des Festes sind den Menschen die Musen, Apoll, der Musegetes, und Dionysos beigegeben, d.h. die Götter des Tanzes und des Gesangs; sie haben den Menschen diese Kunstformen geschenkt, in denen sich die natürlichen Triebe, sich zu bewegen und die Stimme zu erheben als Ausdruck der Freude, entfalten können, indem sie sich mit dem Sinn für Maß in der Form von Rhythmus und Harmonie verbinden.
Von der Politeia zu den Nomoi hat sich für Platon auch im Bereich des Musischen eine Akzentverschiebung vollzogen, denn während dort der Anteil des Logos an der Dichtung im Vordergrund stand, geht es im 2. Buch der Nomoi hauptsächlich um den Anteil der Musik und des Tanzes, d.h. aber: In den Untersuchungen der Politeia betrachtete man vor allem den Dichter und seine Schöpfungen und fragte nach ihrer Zulässigkeit im Staat, während es sich in den Nomoi um die Kunst handelt, an der die Gemeinschaft aktiv teilnimmt. Dadurch aber tritt die Gemeinschaft auch in der musischen Betätigung den Göttern näher, als es in der Politeia, die die menschlichen Möglichkeiten des Erkennens viel mehr betonte, möglich war. Von daher wird es nun auch verständlich, dass Platon an dieser Stelle die Götter einführt als Erzieher der Menschen durch das Medium des Musischen und im Rahmen des Kults.
Die Betonung des musikalischen Elements der Kunst in den Nomoi ist sicher auf den stärkeren pythagoreischen Einfluss im Spätwerk zurückzuführen, auf die Lehre von der Korrespondenz zwischen Kosmos, Musik und Ethos, vermittelt durch die allem zugrunde liegenden Zahlen-Verhältnisse, die sich in Harmonie und Symmetrie darstellen.
Andrerseits kann sich diese Auffassung von der Korrespondenz zwischen Kunst und Ethos auch auf eine allgemein menschliche Erfahrung stützen; die Tatsache nämlich, dass Dichtung und Musik, getrennt oder verbunden im Gesang, eine starke Wirkung auszuüben vermag, braucht nicht weiter bewiesen zu werden, wir können sie an uns selbst erfahren, und für die Griechen gilt dies noch in viel stärkerem Maße, da bei ihnen das öffentliche Leben, Kult und Erziehung, weitgehend davon geprägt war, was bei uns heute keineswegs der Fall
ist. Für die Griechen galt der Amusische im weitesten Sinne auch als ungebildet, während bei uns die Empfänglichkeit für Kunst doch als eine private Spezialität angesehen wird.

Darüber hinaus können wir von unserer Erfahrung ausgehend feststellen, dass die Wirkung der Kunst je nach unserer Empfänglichkeit sich nicht auf ein rein ästhetisches Vergnügen beschränkt, sondern dass sie in uns Stimmungen, Gedanken, Vorstellungen weckt, die dann im Handeln und im Leben wirksam werden können - ich brauche da nicht erst an extreme Fälle zu erinnern wie z.B. an die Selbstmordwelle nach Erscheinen des Werther. Die Abhängigkeit zwischen menschlichem Ethos und Kunst zeigt sich in zweifachem Sinn, einmal nämlich als Abhängigkeit des Kunstwerks vom Ethos seines Schöpfers, dann aber als Rückwirkung des Werkes auf den Kunstempfänger; diese letztere Richtung interessiert Platon natürlich vorwiegend[53]. Diese rezeptive Beziehung muss jedoch noch dahingehend differenziert werden, dass das Ethos des Aufnehmenden auch wieder die individuellen Wirkungsmöglichkeiten des Kunstwerks bestimmt.

Hier stellt sich nun die entscheidende Frage in Bezug auf die Erziehung, welche dieser beiden Wirkungsrichtungen tatsächlich die vorwiegende ist, ob es möglich ist, ein bestimmtes Ethos zu bilden durch eine bestimmte Kunst oder ob ein bestimmtes Ethos zunächst schon geformt sein muss, damit eine bestimmte Kunst entstehen bzw. wirksam werden kann; in diesem letzteren Fall wäre die Wirkung der Kunst eine bloße Funktion des Ethos eines Menschen bzw. der Gesellschaft. Als solche wäre sie für Platon kaum von Interesse gewesen, er hätte sie höchstens untersucht und kritisiert, wie er es ja auch so tut, im Zusammenhang mit der Kritik an den bestehenden Staatsformen, aber sie wäre ihm nicht so wesentlich und seine Angriffe gegen die bestehende Kunst wären nicht so heftig gewesen. Nun beschäftigt er sich aber gerade deswegen so ausführlich mit der Kritik der ihm vorliegenden Dichtung und mit den Möglichkeiten einer Neuorientierung, weil er in ihr das beste und wirksamste Mittel sieht für die Neuschöpfung eines Staates auf dem Wege der Erziehung. Für ihn ist also die Wirkungsrichtung vom Ethos zur Kunst durchaus reversibel. Obwohl wir aber die Möglichkeit einer solchen Reversibilität in unseren
Erfahrungen bestätigt fanden, sträuben wir uns gegen die konsequente Durchführung dieser Auffassung. So setzt hier z.B. die Kritik Gadamers an der platonischen Konzeption ein[54]

Gadamer behauptet, dass die Dichtung selbst nicht erzieherisch wirken kann und soll, sie stelle höchstens eine "Beihilfe" zur Erziehung dar und werde höchstens dort erzieherisch relevant, wo sie mit der eigentlichen Erziehung, nämlich durch die Gesetze und die Formen der Gemeinschaft, parallel geht. Platon verlange aber von der Dichtung, dass sie allein, ohne den Einfluss einer sittlichen Lebensgemeinschaft, erzieherisch wirke, und zwar auf Grund der sokratischen Einsicht, dass es eine solche Lebensgemeinschaft seit der Sophistik nicht mehr gebe. Ich möchte hier noch anschließen, dass es auch in unserer Zeit eine solche Lebensgemeinschaft nicht mehr gibt und dass unsere Situation in dieser Hinsicht durchaus mit den Verhältnissen in Athen um die Wende vom 5. zum 4.Jh. vergleichbar ist, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Stellung der Kunst in der damaligen attischen Gesellschaft immer noch tief verankert war, während ihre Wirkung nicht mehr auf gesellschaftsbildenden Kräften aufbauen konnte, d.h. da die Gesellschaft nicht mehr durch allgemein geltende sittliche und religiöse Vorstellungen getragen war, konnte die Kunst in ganz verschiedenem Sinne ausgelegt werden, was bei ihrer großen Wirksamkeit verheerende Folgen haben konnte, selbst wenn sie an sich konstruktive Gesellschaftskritik enthielt, wie wir es bei Euripides beobachten können. Diese Tatsache lässt die besondere Notwendigkeit der platonischen Überlegungen deutlich werden.

Gadamers Kritik trifft auf Platon insofern nicht zu, als er ihm zuschreibt, dass er von der Kunst verlange, dass sie allein, ohne die Einflüsse einer Lebensgemeinschaft wirksam sein könne. Diese Kritik übersieht, dass im Athen des 5- Jh. und noch zu Platons Zeit die Dichtung tatsächlich eine allgemeinbildende Funktion hatte, die Platon ihr in einem ganz neuen Sinn wieder geben wollte, allerdings nur im Zusammenhang mit seiner Neuschöpfung des Staates. Zeichnet sich sein Staatsentwurf doch gerade dadurch aus, dass darin alle Lebensbereiche der Gemeinschaft auf ein Ziel, die Areté, hin geordnet und in diesem Sinne alle Bereiche gleichmäßig durchgestaltet werden; von einer Isolierung der erzieherischen Wirkung der Kunst ist also nicht die Rede.

Unser Unbehagen gegen die Auffassung Platons von der Stellung der Kunst gründet sich aber auf das berechtigte Misstrauen gegen den ganzen platonischen Entwurf eines totalitären Staates. Gingen wir von der Voraussetzung aus, dass ein radikaler Neubeginn einer Staatsbildung möglich wäre, die von der höchsten und umfassendsten Weisheit und Areté, verkörpert in den Philosophenherrschern, getragen wäre, so könnten wir die Bestimmungen über Kunst durchaus als folgerichtig und berechtigt anerkennen. Eine solche umfassende Weisheit ist aber im menschlichen Bereich nicht möglich, wie Platon später, durch seine praktischen Erfahrungen belehrt, selbst bekennt[55], sie käme nur einem übermenschlichen Wesen zu. Platon kann sich deshalb nicht damit begnügen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sondern er sieht in den Bemühungen, den Staatsentwurf als Vorbild zu nehmen und ihn wenigstens so weit wie möglich zu verwirklichen, die einzige Möglichkeit einer Besserung.

Dass Platons Auffassung von der Kunst und ihrer Stellung in der Gesellschaft nur im Zusammenhang mit dem Modellcharakter des Staatsentwurfs zu verstehen ist, hat Gadamer sehr deutlich hervor-gehoben[56] Analog dazu ist aber auch die kritische Stellung Platons zur griechischen Dichtung nur im Zusammenhang seiner Kritik der bestehenden Staatsformen zu verstehen. Allerdings sieht er hier, wie wir oben gesehen haben, die Kunst nicht in ihrer Abhängigkeit von der Gesellschaft, sondern er kehrt dieses Abhängigkeitsverhältnis um, indem er die Kunst dafür verantwortlich macht, ob die Gesetze eines Staates Bestand haben oder nicht; dabei spielt er häufig mit dem Doppelsinn des Wortes νόμος (Gesetz / Tonart).

Als Beispiel für eine ungestört dauernde Eunomia (gute Verfassung) auf Grund unverletzter Kunstformen zitiert er Ägypten[57], als Gegenbeispiel die Entwicklung in Athen (Nom. III, 700a - 701b): „Zur Zeit der Perserkriege herrschte in Athen eine vorbildliche Eunomia, die sich in der Kunst darin zeigte, dass ganz bestimmte Kunstformen festgelegt waren, die von den Dichtern genau innegehalten werden mussten; außerdem war damals das Urteil der Gebildeten allein ausschlaggebend. Nach den Perserkriegen aber traten Dichter auf, φύσει μν ποιητικοί, γνώμονες δ περ τ δίκαιον τς Μούσης κα τ νόμιμον (die zwar von Natur mit dichterischen Gaben ausgestattet, aber ohne Kenntnis des Rechten und Gesetzmäßigen in den Musenkünsten waren,) sie vermischten die Liedgattungen und gaben der übermäßigen δονή (Vergnügen) Vorschub; die Folge war, dass nicht mehr die ορθόθης (Richtigkeit) und das αγαθόν (Gute) Kriterium des Urteils war, sondern das Vergnügen der Zuhörer, und dass sich nun die Menge ein Urteil anmaßte, das sie durch lauten Beifall oder Pfeifen kundtat. Daraus entstand dann in der Menge die παρανομία (Gesetzlosigkeit) indem sie sich nämlich im Theater nicht mehr dem Gesetz und der Obrigkeit unterordnen wollte, und diese Paranomie setzte sich dann in alle anderen Lebensbereiche fort.
Aus der Schilderung dieses neuen Kunstbetriebes ersehen wir, dass Platon hier vor allem das Drama meint, obwohl er es nicht ausdrücklich erwähnt. Die Analyse der athenischen Entwicklung kann für uns sicher kaum einen historischen Wert beanspruchen, denn an den gesellschaftlichen Veränderungen in Athen von den Perserkriegen bis zur Zeit des Peloponnesischen Krieges waren sicherlich andere Faktoren beteiligt, die von der Entwicklung des attischen Theaters höchstens unterstützt werden konnten, für Platon ist diese Betrachtungsweise jedoch höchst bezeichnend; programmatisch, möglicherweise als Zitat des Musiktheoretikers Dämon, ist sie ausgedrückt in dem Satz (Rep. IV, 424c): οδαμο γρ κινονται μουσικς τρόποι νευ πολιτικν νόμων τν μεγίστων, ς φησί τε Δάμων κα γώ πείθομαι (weil nirgends die Gesetze der Musik geändert werden, als nur zugleich mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen, wie Damon sagt und ich auch gern glaube.). Als Ursache dieser Beurteilung der Kräfteverhältnisse durch Platon müssen wir wieder die tatsächliche weitreichende Wirkung der Kunst im Athen des 5. Jh. in Anschlag bringen, die aber noch dadurch potenziert wird, dass er, ebenso wie das Beispiel Ägyptens, so auch die attischen Verhältnisse der Perserzeit stark idealisiert, denn nur in einer einheitlichen, harmonisch geordneten Gemeinschaft, wie sie Platon in der attischen Gesellschaft dieser Zeit verwirklicht sieht, kann die Kunst eine erhaltende oder auch eine allmählich deformierende Wirkung haben, wenn sie sich frei und ungehemmt entwickeln kann.








4. Eigenständigkeit der Kunst und Kontrolle durch den Staat

Die Gefährdung des idealen Staatsgebildes, das Platon immer als ein stabiles, unabänderliches Gefüge konzipiert, durch die Kunst hat nun noch einen weiteren Grund, der in der Stellung des Künstlers zur Gesellschaft zu sehen ist. Hier treffen wir auf ein wesentliches Merkmal der Kunst, das Platon, ohne weiter darüber zu reflektieren, als selbstverständlich anerkennt und dem er auch Rechnung zu tragen sucht, dass nämlich der Künstler nie völlig in die Gesellschaft integriert werden kann. Meist kommt der Dichter von auswärts, er ist nicht an einen Ort gebunden. Dies entspricht weitgehend der griechischen Realität, denn in homerischer Zeit zogen Dichter und Rhapsoden in ganz Griechenland umher, und die Lyriker setzten dieses Wanderleben zum Teil wenigstens fort; es ist selten, dass sich ein Dichter so durchgehend mit den Grundsätzen einer Polisgemeinschaft identifiziert wie z.B. Tyrtaios in Sparta. Prinzipiell verschieden war jedoch die Situation des attischen Dramas; seinem Wesen als Teil des Kultes und seiner Aufführungstechnik entsprechend war es bodenständig oder schränkte zumindest die Möglichkeiten eines Ortswechsels erheblich ein. Die bekanntesten Dichter, soweit sie uns noch fassbar sind, waren meist Einheimische aus Attika, ebenso wurde das Aufführungspersonal großenteils von athenischen Bürgern gestellt. Hier ist es aber gerade bezeichnend, dass Platon auch von den Tragödiendichtern als von Fremden spricht, die in die Stadt kommen, um ihre Produkte zu zeigen[58].

Diese Ungebundenheit ist jedoch nur der äußere Ausdruck für die innere Struktur der Kunst und ihres Verhältnisses zur Gemeinschaft. Der Dichter schafft aus sich heraus, und selbst wenn Platon und auch die Dichter selbst ihr Schaffen als eine Eingebung der Musen betrachten, so handelt es sich dabei doch immer um ein ganz persönliches Geschenk an den Dichter. So steht seine Produktion nicht oder wenigstens nicht in dem Maße unter dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, wie das bei Handwerkern und Händlern der Fall ist. Er kann durchaus die sittlichen und religiösen Vorstellungen einer bestimmten Gemeinschaft aufgreifen, kann sich damit identifizieren, kann sie in seinem Werk steigern und vertiefen, er kann aber auch neue Vorstellungen herantragen, die in scharfem Gegensatz dazu stehen, und wenn er von dieser Gemeinschaft nicht mehr akzeptiert wird, kann er sich entziehen und einen anderen Wirkungskreis aufsuchen. Ihre persönliche Unantastbarkeit erkennt auch Platon dadurch an, dass er die Dichter, die ihm für den Staat schädlich erscheinen, ausweist, d.h. sie unterstehen nicht dem Machtbereich der politischen Führung, so dass sie innerhalb dieses Bereiches unterdrückt werden könnten. Die Kontrolle über die Kunst ist aber auch dadurch erschwert, dass man sie nicht auf bestimmte Aussagen festlegen kann wie etwa Lehrer und Philosophen. Wenn man nun vollends dazu übergeht, die Dichtung nur nach ihrer theatralischen Wirkung, d.h. nach ihrem  δ (Vergnügen) zu beurteilen, wie es in Athen nach Platons Ansicht geschah, so entgehen die in einer wirkungsvollen Form gelieferten Vorstellungen von vornherein jeder Kritik.
Der Philosophenherrscher oder der Gesetzgeber steht nun, indem er der Kunst so bedeutende Aufgaben in der Erziehung zuteilt, vor dem schwierigen Problem, dass er Kräfte in sein System einer neuen Gemeinschaftsbildung einbaut, die einerseits weder seiner äußeren Macht noch auch seinem inneren Einfluss direkt unterstehen, andrerseits aber auch nicht auf seiner eigenen Erkenntnisstufe stehen und deshalb von selbst im Sinne der auf Phronesis (Einsicht) und Areté gegründeten Gemeinschaft wirken könne. Denn die letzte Einsicht in das Wesen des Guten spricht Platon den Dichtern grundsätzlich ab; sie wissen um das δ und um das ορθόν (das Richtige) ihres Werkes, das jedenfalls muss man von ihnen erwarten, nicht aber das καλόν[59], d.h. das φέλιμον, τ ρετς χόμενον (das Schöne, d.h. das Nützliche, mit der Tugend verbundene)(Nom. 655b). Aus diesem Grunde aber kann das Künstlerische jederzeit mit dem in platonischem Sinne Kalón in Konflikt geraten, so etwa wenn es an der oben bereits zitierten Stelle von gewissen Dichtern heißt (Nom. 700d φύσει μὲν ποιητικοί, ἀγνώμονες δὲ περὶ τὸ δίκαιον τῆς Μούσης καὶ τὸ νόμιμον (die zwar von Natur mit dichterischen Gaben ausgestattet, aber ohne Kenntnis des Rechten und Gesetzmäßigen in den Musenkünsten waren,) oder wenn im 3. Buch des Staates die düsteren Beschreibungen der Unterwelt mit der Begründung eliminiert werden sollen (387b): ταῦτα καὶ τὰ τοιαῦτα πάντα παραιτησόμεθα Ὅμηρόν τε καὶ τοὺς ἄλλους ποιητὰς μὴ χαλεπαίνειν ἂν διαγράφωμεν, οὐχ ὡς οὐ ποιητικὰ καὶ ἡδέα τοῖς πολλοῖς ἀκούειν, ἀλλ' ὅσῳ ποιητικώτερα, τοσούτῳ ἧττον ἀκουστέον παισὶ καὶ ἀνδράσιν οὓς δεῖ ἐλευθέρους εἶναι, δουλείαν θανάτου μᾶλλον πεφοβημένους. (Für dieses und alles dergleichen wollen wir bei dem Homer und den andern Dichtern darum bitten, uns nicht zu zürnen, wenn wir es ausstreichen, nicht als ob es nicht dichterisch wäre und dem Volk angenehm zu hören, sondern weil es je dichterischer, um desto weniger darf gehört werden von Knaben und Männern, welche frei gesinnt sein sollen und die Knechtschaft mehr scheuen als den Tod. 
Da den Dichtern also die entscheidende Einsicht um das letzte αγαθόν (Gute) ihrer Werke fehlt, können sie sich nicht selbständig an der rechten Erziehung beteiligen, und der Herrscher muss ihre Werke zunächst daraufhin prüfen. Dabei ist es wieder ein Zeichen für die Einsicht Platons in das Wesen der Kunst, dass er weiß, dass man die Dichter nicht einfach zwingen kann, im Sinne der Gesetze zu dichten, dass  man aber auch nicht Dichter heranbilden kann durch Erziehung[60]; der Herrscher kann nur versuchen, sie zu überreden oder auf sie in der Weise Druck auszuüben, dass er ihnen ihre Produkte nicht abnimmt, sie umarbeiten lässt oder, bei gänzlicher Unbrauchbarkeit, den Dichter verbannt.
Um aber zum richtigen Urteil über ein Kunstwerk fähig zu sein, muss der Regent oder ein von ihm beauftragter Kunstrichter nicht nur die Einsicht haben in das γαθν eines Werkes, sondern auch seine künstlerische Qualität und seine Wirkungskraft beurteilen können; er müsste also die Kenntnisse - nicht die Fähigkeiten - des Dichters mit der philosophischen Einsicht in sich vereinigen, dem Dichter also in jeder Hinsicht überlegen sein an Weisheit. Dass eine solche Verbindung geistiger Kräfte einem Menschen kaum in vollem Maße erreichbar ist, kommt erst dem späten Platon voll zu Bewusstsein. In den Nomoi (657ab) sagt er, wenn einer die Richtigkeit der Kunst wirklich erfassen könnte, so sollte er ohne weiteres allgemein und dauernd geltende Gesetze darüber erlassen, wie es in Ägypten der Fall ist - τοτο δ θεο θεου τινς νδρς ν εἴῃ (das aber dürfte wohl die Sache eines Gottes oder eines göttlichen Mannes sein), wie ja auch die Ägypter ihre geheiligte Kunst auf Isis zurückführten.


IV. Wesenszüge der Kunst

1. Τ εκός und Αλήθεια (das Wahr-Scheinliche und die Wahrheit)


Im Prooem von Hesiods Theogonie steht die rätselhafte Selbstaussage der Musen (v.27f ):
     ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα,
ἴδμεν δ', εὖτ' ἐθέλωμεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.
(Wir können viel Erlogenes sagen, ähnlich dem Wahren / Wir können aber, wenn wir wollen, Wahres verkünden.) Dem Dichter aber hauchen sie göttlichen Gesang ein, dass er verherrliche τά τ' ἐσσόμενα πρό τ' ἐόντα (das was sein wird und was voher war) (32), ebenso wie sie selbst den Sinn des Zeus erfreuen, indem sie τά τ' ἐόντα τά τ' ἐσσόμενα πρό τ' ἐόντα (was ist, was sein wird und was früher war) rühmen (36ff.).
Es klingt fast wie eine Variation der zuerst zitierten Hesiodverse, wenn Platon am Anfang seiner Mythenkritik in der Politeia unterscheidet zwischen ψευδες und ληθες λόγοι (erlogenen und wahren Reden) und dann vom Mythos sagt (377a) τοῦτο δέ που ὡς τὸ ὅλον εἰπεῖν ψεῦδος, ἔνι δὲ καὶ ἀληθῆ (Das aber ist wohl, um es gerade heraus zu sagen, erlogen, es enthält aber auch Wahres) . Hier sei ferner noch sogleich eine Äußerung des Aristoteles zum Vergleich hinzugefügt, die zunächst in gar keiner Beziehung zur platonischen Äußerung zu stehen scheint, obwohl sie ebenfalls eine Aussage über die Relation der Kunst zu ihrem Gegenstand enthält, ich meine den Satz aus dem 9.Kapitel der Poetik, dass sich die Dichtung von der Geschichtsschreibung dadurch unterscheide, dass sie nicht das καθ'καστον (im einzelnen) darstelle, sondern das καθόλου (Allgemeine) und dass sie deswegen philosophischer sei als jene; in diesem φιλοσοφώτερον liegt aber auch eine Aussage über den Wahrheitsgehalt der Kunst, allerdings unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als bei Platon.
Es kommt uns einigermaßen befremdlich vor, wenn Platon ausführt, dass sich die Erziehung zunächst auf Täuschungen (d.h. Mythen) gründen müsse. Dem liegt die Auflassung zugrunde, dass die ganze Wahrheit über das Gute, das Gerechte usw. erst dem Philosophen zugänglich wird, also nur wenigen Menschen und auch diesen in einem sehr späten Stadium ihrer Entwicklung. Platon demonstriert uns die berechtigte Anwendung dieses Prinzips selbst, wenn er die Solidarität und andrerseits die Ständeordnung zwischen den Gliedern seines Staates dadurch sanktionieren will, dass er einen Mythos, ein ψεσμα γενναον (heilsame Lüge)(414b ff.) einführt, in dem alle Bürger als erdgeboren und daher als Βrüder dargestellt sind, die aber dadurch voneinander verschieden seien., dass ihnen Gott unterschiedliche Metalle beigemischt habe.
So verhält sich also für Platon der Mythos und damit auch die Kunst, deren Hauptaufgabe ja im Erfinden von Mythen besteht, gegenüber der Wahrheit neutral, er kann Wahrheit enthalten, kann aber auch, ohne an Wert in Bezug auf die gesuchte Wirkung, nämlich das καλόν (das Schöne) , zu verlieren, eine bewusste Täuschung darstellen. In diesem Sinne tadelt er in seiner Μythenkritik an Hesiod z.B. (Rep. 377e/378a), dass er ο καλς ψεύσατο (nicht schön gelogen hat), indem er die furchtbaren Taten des Uranos und des Kronos dichtete; dies dürfte, so behauptet er, selbst wenn es wahr wäre, vor Unvernünftigen und vor jungen Menschen nicht vorgetragen werden.
Das innere Kriterium, nach dem der .Philosoph das καλόν, d.h. den erzieherischen Wert einer Dichtung beurteilt, ist das εικός. Unsere deutsche Entsprechung für diesen Begriff stellt die exakte Interpretation dessen dar, was Platon darunter versteht: das „Wahr-scheinliche“[61] , das, was dem, der das Wahre nicht erkennt, als wahr erscheinen kann, also auch das Glaubwürdige (πιθανόν). Was also im Phaidros (272de) den Lehrern der Rhetorik vorgeworfen wird, dass sie nämlich in Gerichtsreden, wo es um das Urteil über das wahrhaft Gerechte geht, nur nach dem εικός, und dem πιθανόν zu streben lehren, und selbst den Tatbestand nur insofern heranzuziehen, als er der Wahrscheinlichkeit entspricht[62], das kann Platon der Kunst als ihr Wesensmerkmal ohne weiteres zuerkennen. Allerdings muss dieses Wahrscheinliche der Kunst, was also den zur Erkenntnis Unfähigen als wahr erscheinen kann, auf die Wahrheit hinweisen, darf nicht im Widerspruch dazu stehen, d.h. der Philosoph muss die Wahrscheinlichkeit eines Mythos vom Standpunkt seiner Wahrheitserkenntnis aus erst anerkennen.
Der Begriff des εικός, als indirekte Beziehung zur Wahrheit, tritt nicht nur dort auf, wo ein direkter Zugang zur Wahrheit noch nicht erreicht ist, sondern auch in den Bereichen, die der menschlichen Erkenntnis überhaupt verschlossen bleiben, und nun sieht Plato ein Wesensmerkmal des Mythos gerade darin, dass er in diese Bereiche führt und aus ihnen seinen Stoff bezieht. So heißt es an der Stelle, wo es um die Berechtigung des ψεύδεσθαι (lügen) im menschlichen Bereich geht (Rep.382cd): „Auch in den Mythendichtungen, von denen wir eben sprachen, machen wir, da wir nicht wissen, wie es sich mit der Wahrheit über die alten Geschehnisse verhält, die Täuschung in der Weise brauchbar, dass wir sie der Wahrheit möglichst ähnlich machen." Nach der Methode der platonischen Mythenkritik zu urteilen, heißt das aber, dass die Mythen den vom Philosophen erkannten Wesenszügen der Götter und der Heroen entsprechen sollen.
Was Platon hier unter dem ληθές (wahr) versteht, das nach der anfangs zitierten Stelle (Rep. 377a) im Mythos auch enthalten sein kann, deutet der Ausdruck "über die alten Geschehnisse"  (περ τν παλαιν) an, und es wird uns noch deutlicher, wenn wir damit einen Gedanken aus der Archäologie des Thukydides vergleichen (1,1,3): „Über die Ereignisse davor und die noch älteren eine genaue Kenntnis zu gewinnen, war unmöglich wegen der Länge der Zeit; aus den Zeugnissen aber, die ich weitgehendst geprüft habe, komme ich zu der Annahme,...". Es handelt sich um die faktische, historische Wahrheit einer Aussage, die einfach wiedergibt, "wie es gewesen ist". An die Stelle des platonischen ληθές setzt der Historiker das für ihn typische σαφές (genau), und während Platon das εκός (wahrscheinlich) aus seinen philosophischen Vorstellungen ableitet, zieht Thukydides seine Schlüsse auf Grund von konkreten τεκμήρια (Beweisen). Gemeinsam ist beiden der Begriff der πίστις (glauben, für wahr halten) (Thuk.: πιστεσαι), der in dem platonischen πιθανόν (glaubwürdig) enthalten ist[63].
Dieser Begriff kehrt an einer Stelle des Timaios wieder, die in unserem Zusammenhang so bezeichnend ist, dass sie hier zitiert sei. Timaios spricht davon (29 b-d), dass der Wahrheitscharakter einer Aussage sich nach deren Gegenstand richtet. So sind die Aussagen über das ewig gleichbleibende Sein ebenfalls gleichbleibend und unwiderlegbar, soweit das menschlichen Sätzen möglich ist; „die (Sätze) aber über das, was jenem nachgebildet ist, sind, da es ein Abbild (εκών) ist, wahrscheinlich (εκότως) und jenen anderen (Sätzen über das Seiende) analog. Wie sich ja das Wesen zum Werden verhält, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben(πίστις). Wenn wir also nicht fähig sein werden, in vielem über vieles, über die Götter und die Entstehung des Alls in jeder Hinsicht vollkommen mit sich übereinstimmende und exakte Sätze vorzutragen, so wundere dich nicht, Sokrates. Denn wenn wir es in nicht geringerem Maße als ein anderer als wahrscheinlich hinstellen, so muss man zufrieden sein, bedenkend, dass ich, der



Redende, und ihr, die Richter, eine menschliche Natur besitzen, so dass es sich ziemt, wenn wir über diese Dinge den wahrscheinlichen Mythos (τν εκότα μθος) vernehmen, nichts darüber hinaus zu forschen.“[64]

Wenn wir von hier aus nun zur aristotelischen Konzeption zurückkommen, so können wir zunächst feststellen, dass das Verbindungsglied zu Platon in der Einführung des εκός (wahrscheinlich) besteht; allerdings führt dieser Begriff bei Aristoteles zu einer ganz anderen Bewertung. Dadurch nämlich, dass der Mythos nicht eine zufällige Wahrheit zum Inhalt hat, indem er wie die Geschichtsschreibung einen Ausschnitt aus dem historischen Ablauf beliebig herausgreift, sondern eine auf innere Konsequenz (κατ τ εκς τ ναγκαον – entsprechend dem Wahrscheinlichen oder dem Notwendigen) aufgebaute allgemeine Wahrheit, rückt die Kunst für Aristoteles in die Nähe der Philosophie; ob der Mythos nun rein erfunden ist oder von einer historischen Realität ausgeht, spielt dabei keine Rolle. Es spielt auch bei Platon keine Rolle, auch für ihn gilt die Forderung an den Mythos, dass er κατ τ εκός (gemäß dem Wahrscheinlichen) gedichtet sei, aber auf Grund ihres εκς-Charakters steht die Dichtung für ihn hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruches weiter von der Philosophie ab als jede andere auf τέχνη (Kunstfertigkeit) beruhende Produktion.

Mit dem Begriff des καθόλου (das Allgemeine) führt Aristoteles eine Betrachtungsweise in die Ästhetik ein, die zwar für die Folgezeit höchst fruchtbar wurde, da sie scheinbar dem Wesen der Kunst eher gerecht zu werden vermochte als die platonische. Andrerseits müssen wir auf Grund unserer bisherigen Analysen zugestehen, dass die platonische Konzeption viel klarer und konsequenter ist. Platon macht nicht den Unterschied zwischen konkret und allgemein in Bezug auf die Wahrheit; für ihn besteht die Erkenntnis eines konkreten Sachverhaltes, etwa der Herstellung eines Gegenstandes, in der Erkenntnis des Guten des herzustellenden Gegenstandes und der Voraussetzungen, aus denen es entsteht.
Ebenso ist aber auch eine philosophische Erkenntnis etwa des Wesens der Gerechtigkeit durch die Erkenntnis des Guten der Gerechtigkeit bestimmt. Von hier aus ist auch die häufig bei Platon vorkommende, uns an sich unverständlich und naiv anmutende Forderung zu verstehen, dass das Urteil über eine Dichtung jeweils dem Sachverständigen zustehe, in dessen Gebiet der an einer Stelle behandelte Gegenstand fällt, dass also über die homerischen Schilderungen militärischer Operationen nur der Stratege, über die Reden des Agamemnon in der Heeresversammlung nur ein Politiker urteilen könne.

Platon richtet sich mit diesen paradox erscheinenden Forderungen gegen die Ansichten seiner Zeit von der tiefen Weisheit der Dichter, indem er verdeutlicht, dass es in der Dichtung ihrem Wesen nach eben nicht in erster Linie um die Wahrheit im Erfassen konkreter oder historischer Sachverhalte geht, dass sie also weder auf Erkenntnis der Wahrheit beruhen muss noch auch folglich solche vermittelt. Ihre charakteristische Aussageweise ist durch den Begriff des εκός (wahrscheinlich) bestimmt, der jedoch für Platon mit der Wahrheit insofern in Beziehung stehen muss, also dem, der die Wahrheit kennt, dem Philosophen also, das Urteil darüber zusteht, ob ein Kunstwerk εκός ist und damit auch καλόν (schön), d.h. ob es seiner erzieherischen Funktion gerecht werden kann.






















2. Dichten als Enthusiasmus


In der historischen Betrachtung der Entstehung von Staatsgebilden im 5. Buch der Nomoi (680b-d) zieht der Athener für seine Skizze der primitivsten Form einer Politeia Homer heran als μάρτυς (Zeugen)und μηνυτής (Gewährsmann)und zitiert drei Verse aus der Erzählung des Odysseus über die Kyklopen (Od. IX,112-15); der Kreter, dem Homer und überhaupt die griechische Dichtung unbekannt ist, nennt den Dichter χαρίεις (anmutig), seine Verse μάλ'στεα (recht hübsch), während Megillos erklärt, dass Homer in Sparta, obwohl er den Ιωνικς βίος (ionischen Lebensstil) darstelle, als der größte Dichter in seiner Art gelte. Etwas später (681e-82a) zitiert dann der Athener, nun um die 3. Entwicklungsstufe einer Politeia aufzuzeigen, zwei Verse aus der troischen Genealogie, die Aeneas dem Achill entgegenhält (Ilias,.XX,216-18), und er fügt hinzu: "Denn diese Verse und jene, die er über die Kyklopen äußerte, sagte er offenbar als irgendwie nach dem Gott und der Natur gemäß gesprochen; denn göttlich ist doch sicher das Geschlecht der Dichter, gottbegeistert, und erfasst daher jedes Mal vieles, was in Wahrheit geschehen ist, im Bund mit Chariten und Musen."

Mit der Verbindung des Dichters zu den Chariten und vor allem zu den Musen, mit der Vorstellung des ενθεαστικόν oder ενθουσιαστικόν (von Gott begeistert) tritt ein völlig neues Element in unsere Untersuchung ein, das für vieles bisher gesagte eine tiefere Begründung ermöglicht, im Ganzen aber einen ganz neuen Bereich eröffnet. Mit diesem Neuen nun kommt aber erst die ganze scheinbare Zwiespältigkeit in Platons Verhältnis zur Kunst zum Ausdruck. Denn während bisher gezeigt wurde, wie Platon bemüht war, die Dichtung einerseits streng von aller επιστήμη (Wissenschaft) abzugrenzen, sie andrerseits aber in sein Staatsgefüge einzubauen, kommt mit diesem Motiv, das der Dichtung, soweit wir sie in die archaische Zeit hinauf verfolgen können, als religiöse Grundlage ihres Privilegs galt[65], ein Element hinzu, das die Dichtung ihrem Wesen nach aus allen gesellschaftlichen Bindungen herauslöst und das ferner einen gewissen Wahrheitsanspruch der Dichter rechtfertigt.

Parallel zu dem bisher behandelten Zwiespalt - Abgrenzung der Dichtung von der Philosophie, Integration der Dichtung in die Erziehung - nimmt nun auch das Phänomen des Enthusiasmus bei Platon eine Doppelgestalt an, indem sich auch hier Nichtwissen und Vermittlung höchster Weisheit gegenüberstehen. Hier wie dort aber zeigt sich ein Zwiespalt nur in der äußeren Erscheinungsform der Beurteilung, während zwischen den verschiedenen  Aspekten, die Platon dem Wesen der Kunst abgewinnt, ein konsequenter innerer Zusammenhang besteht; die Härte mancher Urteile ist meist dadurch provoziert, dass sie gegen Auffassungen gerichtet sind, die nicht die richtigen Unterscheidungen machen. Ein Beispiel für diese verbreitete Fehlhaltung zeigt uns der junge Platon in der stark karikierten Gestalt des Rhapsoden Ion, der in der Überzeugung, dass in den homerischen Gedichten eine besondere Weisheit enthalten sei, sich selbst, da er mit ihnen besonders vertraut ist, ebenfalls für besonders weise auf allen Gebieten hält.

Platon ist selbst, wie wir gesehen haben, durchaus davon überzeugt, dass sich in den Werken Homers und auch anderer Dichter eine gewisse Weisheit ausspreche; aber von welcher Art ist diese Weisheit? Sie wird dem Dichter zuteil im Zustand der Ekstase, μανία, vergleichbar dem Zustand der delphischen Priesterin, d.h. aber in einem Zustand, in dem nicht die menschliche Vernunft zu Erkenntnissen führt, sondern in dem dem Dichter durch die Muse übermenschliche, göttliche Weisheit zuteil wird. Die entsprechende menschliche Haltung durchaus religiösen Charakters, die die Dichtung als ein göttliches Geschenk annimmt, zeigt sich uns ganz klar in den Prooemien der Gedichte Homers und Hesiods, sie zeigt sich auch in den berühmten Versen des Archilochos (fr. 1D), wenn wir das επιστάμενος (wissend) nicht absolut setzen als Ausdruck für menschliches Wissen als Quelle des Dichtens, sondern in enger Beziehung zu Μουσέων ρατν δρον (das geliebte Geschenk der Musen) verstehen als die Erfahrung, die geistige Fähigkeit, das Geschenk der Musen zu empfangen und damit umzugehen. Ein ähnliches Selbstverständnis ist auch bei anderen Lyrikern vorhanden, z.B. bei Sappho und Pindar[66].

Es ist jedoch eine frevelhafte Hybris, wenn nun der Dichter sich selbst diese göttliche Weisheit zuschreibt oder wenn andere Menschen in der Dichtung nicht ein göttliches Geschenk sehen, sondern menschliche Weisheit[67]. Gegen diese Überheblichkeit wendet sich Platon in der Auseinandersetzung mit Ion, indem er nämlich zeigt, dass Ion in keiner Weise die Einsichten hat, mit denen er prahlt, ebenso wie auch die Dichter, die Sokrates, wie er in der Apologie (22bc) berichtet, über ihre Werke befragt, kein wirkliches Wissen haben über das, was sie dichten. Diese Unfähigkeit der Dichter hat zwei Gründe: die Dichtung dringt immer wieder in Bereiche vor, die, wie wir gesehen haben, menschlicher Erkenntnis überhaupt unzugänglich sind, selbst der Philosoph kann hier nur bis zur Wahrscheinlichkeit des Mythos vordringen; hier kann also auch der Dichter allein auf Grund seiner menschlichen Natur keine auf Erkenntnis gründende Rechenschaft geben; die Wahrheit, die sich in seinen Werken in Bezug auf diese Bereiche findet, ist nämlich göttlicher Herkunft.

Aber auch im Bereich menschlicher Erkenntnis ist der Dichter meist unfähig, ein wirkliches Wissen vorzuweisen, denn auch dies würde die menschlichen Kräfte eines Einzelnen übersteigen, da ja in allen Lebensbereichen, die in der Dichtung dargestellt werden, das Wissen nur jeweils den Sachverständigen zukommt. Es handelt sich also in beiden Fällen nicht um eine schuldhafte Unfähigkeit des Dichters, sondern um eine aus dem Wesen der Dichtung und der Kunst allgemein hervorgehende Eigenart. Platons Angriffe können sich nun keineswegs gegen diese richten, wohl aber gegen die Dichter, die sich auf Grund ihrer Werke ein Wissen zuschreiben, das sie nicht besitzen und auch nicht besitzen können.

Von hier aus lassen sich aber auch die endlosen Probleme, die bei der Deutung des 10. Buches der Politeia auftraten, völlig klar lösen. Hier ist nicht vom dichterischen Enthusiasmus die Rede, sondern Platon arbeitet allein mit dem Begriff der Mimesis. Aber auch auf diesem Weg kommt er zu demselben Ergebnis, dass nämlich der Künstler, indem er alles nachahmt, kein Wissen haben kann von dem, was er darstellt. Dieser Sachverhalt wird besonders verdeutlicht durch die bewusst extreme, entleerte Auffassung von Mimesis als bloßer Kopie der Sinnendinge, ferner aber auch dadurch, dass in der ganzen Diskussion der Begriff des Enthusiasmus eliminiert ist[68], ebenso wie auch die Auffassung von der spezifischen erzieherischen Funktion der Kunst nicht erwähnt wird; wenn Homer dort vorgeworfen wird, dass er keinen Menschen die Tugend gelehrt habe, so ist das ja völlig im Sinne der platonischen Gesamtauffassung, die wir oben dargestellt haben, dass nämlich die Kunst keine auf Wissen gegründete Erziehung leisten kann.

Der polemische Charakter dieser Stelle liegt nun darin, dass auf Grund dieser einseitigen Untersuchung ein Urteil gefällt wird, nämlich die Verbannung Homers und der anderen Dichter der nachahmenden Kunst. Wir empfinden dies als harte Ungerechtigkeit gegenüber der Kunst; diese Ungerechtigkeit jedoch aus dem Charakter der Polemik zu erklären[69], ist unbefriedigend. Sie ist auch nicht aus der Methode und auch nicht aus philosophischen Überlegungen zu erklären. Hier müssen Ursachen anderer Art vorliegen, auf die wir erst später zu sprechen kommen.

Wo Platon die Vorstellung des Enthusiasmus mit der Dichtung verbindet, wird zwar nicht der Wert des Dichters in Bezug auf menschliche Einsicht höher eingeschätzt, wohl aber der mögliche Wahrheitsgehalt der Dichtung. Die Muse offenbart dem Dichter unbedingt die Wahrheit, denn nach platonischer Gottesvorstellung ist es undenkbar, dass ein Gott den Menschen täuscht - darin weicht Platon von dem zitierten Hesiodvers (Theog. 27) entschieden ab - sie verkündet ihm wirklich τά τ'όντα τά τ'σσόμενα πρό τ'όντα (das, was ist, was sein wird, und was früher war)(Theog. 38). Da aber der Dichter die Offenbarungen, die ihm im Zustand der Ekstase zuteil wurden, erst mit seinen menschlichen Fähigkeiten in der Darstellung verwirklichen muss, kann die Reinheit der offenbarten Wahrheit nicht erhalten bleiben, weil die Darstellungsmittel keineswegs adäquat sein können, dann aber auch weil der Dichter sie oft missversteht, sie ist ihm ja nicht als eine Erkenntnis gegenwärtig, sondern höchstens als eine unkontrollierte ληθς δόξα (wahre Meinung). Hieraus ergeben sich dann die Mängel der Dichtung, die wir in Kap. 11,2 bereits besprochen haben, nämlich Widersprüchlichkeit und Unklarheit.

Auffallend ist nun die Trennung zwischen Dichtung und Dichter, wie sie in Bezug auf die Rangordnung im Phaidros vollzogen wird, denn während die dichterische Manía als Offenbarung höchster Wahrheit durch den engsten Kontakt zwischen der Göttin und dem Dichter mit der Manía des philosophischen Eros auf dieselbe Stufe gestellt wird, erscheint in der Rangfolge menschlicher Lebensformen (248de) der Dichter weitab vom Philosophen erst an 6. Stelle. Der Grund für diese Trennung ist aber darin zu sehen, dass der Dichter durch den Kontakt mit der Gottheit sich nicht in seinem Wesen ändert, während der Philosoph, getrieben durch die Kraft des Eros, auf dem langen Weg über die verschiedenen Stufen des Schönen zur Schau der Ideen gelangt, d.h. zur höchsten Erkenntnis; er empfängt nicht nur etwas, was er an die Mitmenschen weiter vermittelt, sondern er wird zunächst selbst ein anderer, denn mit der höheren Erkenntnisstufe vollendet sich seine ganze menschliche Existenz.





3. Dichtung als Mimesis

a) Der Begriff

Die Abgrenzung der Dichtung von der Philosophie ist nicht nur bestimmt durch die verschiedene Stellung zur Wahrheit, sie liegt auch im Wesen der Dichtung begründet. Dichtung ist ihrem Wesen nach auf die Welt der Erscheinung beschränkt und wird also notwendig von den Bestimmtheiten dieses Bereiches affiziert, das bedeutet aber, dass die dichterische Darstellung nur insofern Wahres enthalten kann, als sich in der Erscheinung Wahrheit zeigt auf Grund ihrer Teilhabe an den Ideen. Die Begrenztheit der Dichtung spricht Platon im Phaidros deutlich aus, wenn er sagt (247c): "Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier angemessen gerühmt und wird ihn auch nie rühmen. Es verhält sich aber damit so - man muss nämlich wagen, das Wahre zu sagen, zumal wenn man über die Wahrheit spricht - das farblose, gestaltlose und ungreifbare, wahrhaft seiende Wesen nämlich, das allein dem Lenker der Seele, der Vernunft, schaubar ist und auf das die Gattung der wahren Wissenschaft bezogen ist, befindet sich an diesem Ort."
Der Grund dafür, dass die Dichtung trotz göttlicher Inspiration den Bereich der Erscheinung nicht zu überschreiten vermag, liegt in ihrem mimetischen Charakter. Das Verhältnis von göttlicher Eingebung und dichterischer Darstellung erklärt Platon an einer Stelle der Nomoi, wo es wiederum um die Unterscheidung der Aussagen des Gesetzgebers und des Dichters geht (719c): „Es ist ein alter Mythos, von uns selbst oft ausgesprochen und von den andern allen geglaubt, dass der Dichter, wann immer er auf dem Dreifuß der Muse sitzt, nicht bei Sinnen ist, wie eine Quelle aber das Anströmende bereitwillig fließen lässt, und dass er, da die Kunst in Mimesis besteht, gezwungen ist, oft sich selbst in seinen Aussagen zu widersprechen, indem er von Menschen dichtet, die gegeneinander im Widerspruch stehen; er weiß aber nicht, ob das eine oder das andere von dem Gesagten wahr ist." Das, was dem Dichter von den Musen her zuströmt, ist immer das Wahre, indem er aber diese Eingebung zu gestalten versucht, ist er auf die Welt der Erscheinung angewiesen, die in sich widersprüchlich ist. Da nun die Eingebung nicht den Charakter von Erkenntnis trägt, kann er auch seiner Darstellung nicht mehr die Eindeutigkeit im Sinne von Wahrheit verleihen.
Das Zitat aus den Nomoi ist die einzige Stelle in Platons Werk, in der die beiden konstitutiven Elemente der platonischen Auffassung von Dichtung in Zusammenhang gebracht werden. Sie genügt nicht, um alle Probleme zu lösen, wir können daraus nicht ein System der Dichtungstheorie entnehmen, sie gibt uns aber die Richtung an, wie wir die Stellen, die jeweils von Mimesis oder vom dichterischen Enthusiasmus handeln, im Zusammenhang verstehen können.

Der Begriff der Mimesis gelangte wohl ursprünglich auf zwei verschiedenen Wegen in den Bereich der Kunsttheorie; einmal über die Malerei, dann durch die gestische und stimmliche bzw. sprachliche Imitation[70]. Der letztere Ursprung verweist von sich aus auf den Bereich des Dramatischen, den Platon nun im Ganzen als mimetisch kennzeichnet (so im 3- Buch der Politeia, z.B. 394c). In dieser Ausweitung des Begriffs ändert sich jedoch schon sein Bedeutungsumfang, denn wenn Aristophanes einen Kleon oder einen Euripides auf der Bühne mit möglichst vielen charakteristischen Zügen ausstattete, damit jeder im Theater aus den Gesten, der Aufmachung und den Redensarten die betreffenden Personen erkennen konnte, so kann man das noch als unmittelbare Nachahmung bezeichnen, für die Tragödie aber reicht diese Bezeichnung nicht mehr aus, da der Dichter hier bei der Konzeption seiner Gestalten meist nicht von individuellen, realen Personen als Modellen ausgehen kann. Andrerseits liegt der platonischen Definition die richtige Vorstellung zugrunde, dass der Dichter seine Gestalten nicht rein erfindet[71], sondern dass er sie immer nach etwas Vorgegebenem gestaltet. Für die Tragiker des 5. Jh. bestand die Vorlage zunächst in den überlieferten Sagenstoffen; um aber diese Stoffe in der Gestaltung anschaulich zu machen, musste er von der ihm zugänglichen Lebenswirklichkeit ausgehen, dies war auch dann der Fall, wenn er versuchte, sich von dieser zu distanzieren, indem er auf ältere Formen der Sprache oder auf ältere Lebenssitten zurückgriff, wie sie als historisch überliefert waren oder nur wie er sie sich vorstellte. In diesem Sinne versteht dann Platon die Tragödie allgemein als eine μίμησις το βίου (Nachahmung des Lebens), wie man ja auch im homerischen Epos diese enge Beziehung zur Lebenswirklichkeit irgendwie sah, indem z.B. Alkidamas die Odyssee als καλόν νθρωπίνου βίου κάτοπτρον (schönen Spiegel des menschlichen Lebens) bezeichnete[72].


In dieser allgemeineren Verwendung deckt sich das Wort Mimesis nicht mehr mit der deutschen Entsprechung "Nachahmung", obwohl dieses Moment immer noch das vorwiegende ist, so dass es verständlich ist, dass Platon es nicht für nötig hielt, für den erweiterten Begriff ein neues Wort zu wählen. Allerdings tritt bei diesem Sprachgebrauch immer dort eine Schwierigkeit auf - die jedoch mit dem allgemeinen Problem der schwankenden Terminologie bei Platon zusammenhängt - wo der Begriff der Mimesis am Beispiel der Malerei erklärt wird. Auf das Verhältnis des Malers zu einem konkreten Modell kann der Begriff zunächst ohne weiteres im Sinne eines nachahmenden Abbildens angewandt werden; schwierig wird es jedoch, wenn Platon dieses Vorstellungsmodell einfach auf die Dichtung überträgt. Platon ist sich der Gefahr dieser Analogie durchaus bewusst, denn in Rep. X, 603b warnt er Glaukon vor einer leichtfertigen Übertragung dieser Art. So müssen auch wir diese Unterscheidung zwischen der Mimesis des Malers und der des Dichters bei der Deutung dieser und ähnlicher Stellen berücksichtigen. In dieser erweiterten Bedeutung des Begriffes kann Platon aber seine Anwendung über das Drama hinaus auch auf das Epos ausdehnen, sofern es mit direkter Rede durchsetzt ist, außerdem aber auch auf den gesamten Bereich der μουσική[73]. Dabei erfährt der Begriff jedoch keine weitere Differenzierung, wie es zum besseren Verständnis der platonischen Auffassung für uns erforderlich wäre. Aristoteles übernimmt in seiner Definition der Dichtung zu Beginn der Poetik mit dem Begriff auch die Schwierigkeiten, die für uns damit verbunden sind.


b) Analyse von Platon, Rep. X.595a - 608b

Diese grundlegenden Feststellungen zum Begriff der Mimesis bei Platon müssen uns genügen zur Behandlung der Frage, wie sich das Verhältnis Platons zur Dichtung in diesem Begriff ausdrückt. Dazu müssen wir etwas ausführlicher auf den ersten Abschnitt des 10. Buches der Politeia eingehen, auf eine Stelle also, die von Missverständnissen belastet ist wie kaum eine andere bei Platon.

Zu Beginn der Untersuchung steht programmatisch der Begriff der αλήθεια (Wahrheit) in der Forderung, man dürfe Homer nicht höher schätzen als die Wahrheit (595c) Die Betrachtung hat hier also eine ganz andere Stufe erreicht als im 2. und 3. Buch; dort wurde die Dichtung behandelt als Mittel zur Erziehung der Menschen, die noch nicht zum vollen Gebrauch der Vernunft gelangt sind. Nachdem aber im 7. Buch die Fortsetzung der Erziehung über die mathematischen Wissenschaften bis hin zur Dialektik gezeigt worden war, kann nun im 10. Buch das Problem der Dichtung erneut aufgegriffen werden, jetzt aber vom Standpunkt der höchsten Stufe des Seins und des Erkennens aus.

Als erstes (595c - 98d) wird am Beispiel der Malerei gezeigt, dass das Produkt der Mimesis die dritte Stufe nach dem Sein einnimmt, da der Maler die Gegenstände der Natur oder der Technik nachahmt, die ihrerseits wieder nach den Ideen gebildet sind. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn wenn wir auf irgendeine Weise eine Abhängigkeit des Bildes von seinem realen Modell annehmen, so ist auch das Sein des Bildes von der Existenz dieses Modells abhängig. Es hilft hier nichts, dass man auf Rep. 472d verweist, wo von einem Maler die Rede ist, der ein Paradeigma des Menschen malt, denn auch hier ist ja das Bild von der Erscheinung abhängig[74] Hieraus zu entnehmen, Platon habe an eine Malerei gedacht, die etwas von der Idee darstellen könnte, ist völlig absurd[75]; es handelt sich dabei um denselben Irrtum, wie er in der neuzeitlichen Ästhetik gelegentlich auftrat, wenn das Idealbild in der Kunst mit der platonischen Idee in Beziehung gesetzt wurde[76]. Es ist aber völlig undenkbar, wie die Idee einer Sache, wie etwa, um bei dem Beispiel des Sokrates zu bleiben, die Idee eines Bettes in der Malerei darzustellen sei. Denn weder die Ausrichtung der Idee auf das αγαθόν (das Gute) die Areté des Bettes, noch auch die daraus resultierende Struktur eines gemalten Bettes ist ja abhängig von der eines konkreten Modells; sie wird jedoch vom Maler nicht so wiedergegeben, wie sie am konkreten Modell wirklich ist sondern nur, wie sie dem Betrachter erscheint[77].

Es wäre verfehlt, hier ein Werturteil über die Kunst als Mimesis sehen zu wollen, in dem Sinne, dass Platon die Kopie, die Wiedergabe eines Gegenstandes, wie er konkret ist, als besseres Kunstprinzip betrachtet habe als die Wiedergabe der Erscheinung des konkreten Dinges. Es handelt sich um eine sachliche Feststellung über die Mimesis des Malers, einen Definitionsversuch durch Einordnung dieser Mimesis in die verschiedene Seinsstufung, wobei natürlich im Ganzen gesehen eine relative Wertung mitgegeben ist.

Der Übergang von der Malerei zur Dichtung ist gekennzeichnet durch eine Verschiebung des Gegenstandsbereichs der Mimesis, die sich in der Erwähnung des βασιλεύς (König) (597e) ausdrückt: Auch der Tragödiendichter und alle andern Mimetaí sind an dritter Stelle nach dem König und der Wahrheit einzuordnen, d.h. der Bereich ihrer Nachahmung ist die Politeia im weitesten Sinne des Wortes, die Lebensweise und Lebensformen einer Gemeinschaft, nicht die von den Ideen bestimmten Formen, die der Philosophenherrscher vor sich hat, sondern die konkrete Wirklichkeit eines Staates und die darin auftretenden Lebensprobleme.

Der 2. Teil des Abschnitts (598d - 602c) erbringt in zwei Beweisgängen den Nachweis, dass der Mimetés kein Wissen hat von dem, was er nachahmt, eine Feststellung, der wir schon im Ion und in der Apologie begegnen. Das erste Argument schließt auch an die Diskussion des Ion (541b) in der Behauptung, dass die Tragödiendichter und ihr Anführer Homer(!), wenn sie wirklich über das umfassende Wissen verfügten, das ihnen zugeschrieben wird, der Nachahmung wohl die praktische Tätigkeit vorgezogen hätten, allein schon wegen des Ruhmes[78]. Es ist jedoch nicht bekannt, dass Homer irgendeine der Künste, von denen in seinem Werk die Rede ist, ausgeübt oder sie gelehrt hatte, besonders was die Strategie und die Staatslenkung betrifft; es ist auch nicht überliefert, dass er die Paideia eines Menschen gefördert habe, wie es die berühmten Gesetzgeber in der Politik, aber auch Pythagoras und später sogar die Sophisten im privaten Bereich taten oder, was die Sophisten betrifft, zumindest zu tun vorgaben. Hat Platon hier die im 2. und 3. Buch vertretene Ansicht von der erzieherischen Funktion der Dichtung aufgegeben? Wir werden auf diese Frage im 3. Teil dieses Kapitels zurückkommen.


Der 2. Beweisgang (602b ff.) wird von der Feststellung des 1. Teils abgeleitet: Wie die Mimesis die dritte Stufe unter dem wahren Sein einnimmt, so auch der Dichter in Bezug auf die Erkenntnis. Die höchste Erkenntnis einer Sache hat der, der diese benutzt, da er ihren Nutzen, d.h. ihre Areté, am ehesten feststellen kann. Der Hersteller erhält von ihm die richtige Vorstellung, nach der er den Auftrag ausführt. Der Mimetés besitzt jedoch weder Wissen noch richtige Vorstellung, er kann sich nur an die äußere Erscheinung halten. Dass auch in dieser Argumentation ein wichtiger Faktor ausgespart ist, der im 2. und 3- Buch Grundlage der Untersuchung war, wird noch zu zeigen sein. Während in den bisherigen Aussagen nur Feststellungen getroffen wurden, die die Dichtung weder als nützlich noch als schädlich erscheinen ließen, kommt nun im 3. Teil (602c-606d) ein Aspekt hinzu, der die Dichtung eindeutig als schädlich kennzeichnet. Allerdings kann man hier zeigen, dass dieses Schädliche nicht mit strenger Notwendigkeit aus dem mimetischen Charakter abzuleiten ist, dass jedoch darin die Möglichkeiten dazu begründet liegen.

Zuerst wird wieder an der Malerei gezeigt, dass ihre Abbilder sich nicht an den Teil der Seele richten, der imstande ist, zu messen und zu wägen, an das λογιστικόν (Vernunft). In einer gesonderten Argumentation wird nun auch für die dichterische Mimesis, besonders das Drama, nachgewiesen, dass es sich eindeutig an den untersten Seelenteil richtet, an das επιθυμητικόν (begehrlich) und zwar mit einer solchen Intensität, dass es imstande ist, nicht nur junge Menschen, sondern auch reife, zur Areté erzogene Männer zu verderben, falls sie sich dieser Dichtung hingeben. In der dramatischen Dichtung werden Handlungen[79] ' nachgeahmt, die die Menschen gezwungen oder freiwillig tun, die ihnen als Vorteil oder Nachteil erscheinen und über die sie sich freuen oder trauern. Im realen Leben erzeugen diese Handlungen oder Geschehnisse einen Zwiespalt in der Seele, nämlich zwischen λόγος κα νόμος (Vernunft und Norm)  einerseits, welche verlangen, dass der Mensch sich in allen Lebenslagen beherrschen muss, und dem πάθος (Leidenschaft) , das zu hemmungslosen Ausbrüchen der Trauer oder der Freude treibt. Während nun die Paideia darauf ausgerichtet ist, das erste Element, den Logos, zu stärken, so dass er über die anderen Seelenteile vollkommen verfügen kann, wird im Drama gerade dieses πάθος auch an den größten Helden dargestellt und dadurch im Zuschauer genährt. Die Folge davon ist aber, dass selbst ein Mann, der in seinem Leben zu völliger Selbstbeherrschung fähig ist, im Theater beim Anblick fremder Schicksale so in "Mitleidenschaft" (<συμπάσχοντες> 605d4) gezogen wird, dass er die ihm eigene Selbstbeherrschung verliert, dabei aber noch den Dichter lobt, der ihn in diesen Zustand versetzt, obwohl er im Leben diesen Zustand auf Grund seiner Paideia verabscheut. Diese Paradoxie wird im Philebos in Bezug auf die Tragödie prägnant ausgedrückt (48a): .... ταν μα χαίροντες κλάωσι (wenn sie zugleich weinen und sich freuen). Wenn diese Wirkung durch häufige Wiederholung die Menschen beeinflusst, wird die Herrschaft des λογιστικόν über die Leidenschaften auch im Leben immer mehr zurückgedrängt und die Paideia verhindert bzw. allmählich zersetzt[80]

Diese zersetzende Wirkung ist jedoch nicht eindeutig auf den mimetischen Charakter des Dramatischen zurückzuführen, denn wenn das Drama eine bestimmte Art von Handlungen nachahmt, so folgt zunächst keineswegs aus dem Wesen der Mimesis überhaupt, dass in der Nachahmung das pathetische Moment überwiegt. In der dem Logos fremden Natur der Mimesis ist diese Entwicklung zwar angelegt, aber es wäre dennoch an sich möglich, dass auch ein φρόνιμόν τε κα συχιον θος (besonnener und ausgeglichener Charakter) Gegenstand der Mimesis wäre (vgl. 604e-605a). Dass dies nicht geschieht, liegt aber daran, dass es nicht leicht ist, einen solchen Charakter darzustellen, andrerseits aber auch die Darstellung zu verstehen; dies gilt vor allem für die bunte Menge, die das Theater füllt und auf deren Geschmack der Dichter achten muss, wenn er berühmt werden will.

Am Ende des Abschnitts (606e-607a) fasst Sokrates das Urteil über die Dichtung zusammen in seiner Stellungnahme zu Homer: Höchste Anerkennung verdienen seine dichterischen Fähigkeiten, dennoch ist Dichtung dieser Art, die nur die δονή (Vergnügen) bewirkt, nicht in den Staat aufzunehmen, da sonst dort die Leidenschaften herrschen statt des Nomos und des gemeinsam als Bestes anerkannten Logos. Zugelassen werden nur Hymnen und Enkomien.

Auf diese letzte Bekräftigung der Dichterverbannung folgt nun eine Wendung, in der wir wohl eine zwar ernst gemeinte aber doch nur eine Geste zu sehen haben. Nachdem an den uralten Streit zwischen Dichtung und Philosophie erinnert wurde, soll nun der Dichtung und ihren Verteidigern doch noch jede Chance offen bleiben, um zu zeigen, dass sie nicht nur δεα (unterhaltsam), sondern auch φέλιμος (nützlich) sei. Es wäre verfehlt, in diesem Angebot und auch in dem Zugeständnis, dass der Dichtung immer noch eine starke Wirkung eigen ist[81], eine Art Palinodie und darin ein Zeugnis von innerem Schwanken Platons im Verhältnis zur Dichtung zu sehen. Gewiss, die Entscheidung bleibt offen; auf Grund des Angebots der Verteidigung wird sie jetzt am Schluss (607e) in konditionalen Satzgefügen hingestellt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Platon unsicher ist - er hat seine Entscheidung schon längst gefällt; es bedeutet vielmehr, dass Platon hier seinen Gesprächspartnern und durch sie dem Leser die Entscheidung überlässt und ihn dahin zu führen versucht. An dieser Stelle tritt besonders stark der protreptische Charakter hervor, wenn es z.B. heißt (608a), man solle sich gegen die Verführung der Dichtung durch die πδή (Zaubergesang) der aufgestellten Argumente stärken oder wenn auf die Bedeutung der Entscheidung hingewiesen wird: μγας γρ, φην, γν, φλε Γλακων, μγας, …(denn groß ist der Kampf, sagte ich, mein Freund Glaukon, groß…) (608b).


c) Deutung der Stelle im Zusammenhang

Worin besteht die persönliche Entscheidung Platons? Damit kommen wir zur Frage, wie die Feststellungen des 10. Buches im Zusammenhang der Stellung Platons zur Dichtung zu verstehen sind.
Dass Platons Entscheidung nicht darin besteht, die Dichtung, auch die sogenannte δυσμένη Μοσα (unterhaltsame Muse), radikal auszuschließen, zeigt uns allein schon die Tatsache, dass die Dichter, besonders Homer, auch in späteren Dialogen wieder auftauchen, und sicher war die Dichtung auch nicht aus der Akademie verbannt, denn man kann sich nicht vorstellen, dass die erneute Auseinandersetzung in den Nomoi Dichtung als eine völlig isolierte Problematik aufgreift oder auch dass Platonschüler wie Aristoteles oder Herakleides Pontikos sich erst mit Dichtung beschäftigten, als sie sich von der Akademie entfernt hatten.

Die Betrachtung dieser scheinbaren Inkonsequenz zwischen Einsicht und Verhalten muss uns zu einem neuen Verständnis des Hauptproblems, das sich uns angesichts der Politeia stellt, heranführen, nämlich der Frage der Realisation des platonischen Staatsentwurfs, einem Verständnis, das in diesem Werk den dogmatischen Charakter als oberflächlich erweist und damit im wesentlichen eine engere Beziehung zu anderen Dialogen zu sehen vermag[82].

Für das Verständnis des Abschnitts des 10. Buches ist es zunächst wichtig, wie bereits angedeutet, den Gesichtspunkt zu beachten, von dem aus die Dichtung betrachtet wird: Es geht um das Verhältnis der Dichtung zur Wahrheit, am Anfang (595c) wird dieser Gesichtspunkt aufgestellt und am Schluss wieder deutlich ausgesprochen (608a): ᾀσόμεθα δ' οὖν ὡς οὐ σπουδαστέον ἐπὶ τῇ τοιαύτῃ ποιήσει ὡς ἀληθείας τε ἁπτομένῃ καὶ σπουδαίᾳ (wollen als sicher annehmen, daß man sich um diese Dichtkunst nicht ernsthaft bemühen dürfe, als ob sie selbst ernsthaft sei und die Wahrheit treffe.) Dass die Dichtung von hier aus eine negative Einschätzung erfahren muss, war nach allem, was bisher gesagt wurde, zu erwarten.

Eine umfassende Begründung dieser Grundanschauung Platons, dass die Dichtung nicht die echte Wahrheit enthalte, konnte aber erst auf Grund der vorausgegangenen Untersuchungen über die Dreiteilung der Seele und die Unterscheidung der Seinsbereiche durchgeführt werden, indem der Dichtung nun die unterste Stufe des Seins zugewiesen wird, dem Dichter entsprechend die dritte Stufe des Erkennens[83], und ebenso wird auch ihre Wirkung auf die unterste Stufe der seelischen δυνάμεις (Fähigkeiten), beschränkt. Diese Zuweisung an die jeweils niedrigste Stufe impliziert ohne Frage auch eine gewisse Wertung, allerdings immer nur eine relative, nämlich auf die jeweils höchste Stufe bezogene. Es wäre also völlig falsch - und es wird leider oft doch so dargestellt - diese Wertung absolut zu setzen und Platon die Ansicht zuzuschreiben, dass der unterste Seelenteil wertlos oder gar schlecht sei. Es liegt zwar in der Eigenart des platonischen Dialoges, dass eine Sache oft nur von e i n e m Gesichtspunkt aus betrachtet wird, was jedem Einzelwerk dann eine gewisse einseitige Geschlossenheit verleiht[84], die aber von sich aus schon auf andere Betrachtungen in andern Dialogen verweist. So ist auch die .Bewertung, die z.B. in der Bezeichnung des dritten Seelenteils als φαλον[85](schlecht) liegt, nur relativ zu sehen und mit der Gesamttendenz der platonischen Ethik, wie sie vor allem im Philebos entwickelt wird, in Verbindung zu bringen; sie zielt nicht darauf ab, diesen Seelenteil als etwas an sich Schlechtes auszumerzen - das wäre, wie Platon einsieht, unmöglich und auch nicht wünschenswert[86] - sondern ihn unter der straffen Lenkung des Logos zu halten. Nur wo diese Ordnung gestört ist, wo also das επιθυμητικόν (Begehrliche) sich verselbständigt und über die Seele herrscht, ist diese Unordnung schlecht.

Die Erkenntnis der "Einansichtigkeit" vieler Dialoge ist die zweite Voraussetzung für das Verständnis unseres Abschnitts: Da die Dichtung hier nur unter dem Gesichtspunkt der Αλήθεια (Wahrheit) betrachtet wird, werden andere Aspekte bewusst beiseite gelassen, Einen ersten Punkt, die Vorstellung vom dichterischen Enthusiasmus haben wir bereits erwähnt (S. 63f.); er war wohl für die Verfechter der Dichter ein Hauptargument für die Legitimation dichterischer Autorität, Wir haben jedoch gezeigt, dass gerade diese Vorstellung ein völlig unsicherer Faktor im Hinblick auf die Wahrheit der Dichtung ist; daher lässt Platon ihn hier weg.

Eine zweite Auslassung deutet Platon selbst an, wenn er (601ab) die Dichtung ihrer spezifischen Ausdrucksmittel, Metron, Rhythmus und Harmonie entkleidet und sie nur als λόγοι (Wörter) in Betracht zieht[87]. Gerade in diesen Ausdrucksmitteln liegt aber von Natur aus ihre starke Wirkung, ihre μεγάλη κήλησις (große Zauberkraft). Diese suggestive Kraft der Dichtung, die hier negativ erscheint, ist an anderen Stellen eben die Ursache, die Platon veranlasst, sie in sein Erziehungssystem einzubeziehen.


Hier stoßen wir nun auf den dritten Faktor, der im 10. Buch ausgespart ist: die Aufsicht des Philosophen über die Dichtung. Dichtung ist hier völlig sich selbst überlassen und wenn sie eindeutige Wahrheiten enthielte, müsste sie auch selbständig eine echte Paideia bewirken. Dies ist jedoch nicht der Fall; wie ihr Inhalt so ist auch ihre Wirkung unbestimmt, weil sie sich nicht an die "messende" Vernunft wendet. Um der Dichtung eine eindeutige erzieherische Wirkung zu verleihen, muss daher ein richtungweisendes Korrektiv hinzutreten, und dies kann nur von der Philosophie gegeben werden. Eine Analogie dieses Abhängigkeitsverhältnisses der Dichtung von der Philosophie können wir in dem Verhältnis zwischen der χρησομένη (gebrauchenden) und der ποιήσουσα τέχνη (herstellenden Kunst) sehen (601c-e), Wie nämlich der, der ein Instrument in Gebrauch hat, am ehesten über dessen Areté und - bezeichnenderweise - dessen κάλλος (Schönheit) Bescheid weiß und auf Grund dieses Wissens dem Hersteller eine Vorstellung davon vermittelt, so ist es auch der Philosoph, der allein, wie gezeigt wurde, über das καλόν (das Schöne), d.h. das ωφέλιμον (Nützliche) eines Kunstwerkes urteilen kann und der dem Dichter also Weisungen erteilen muss. Indem die wahre Erkenntnis des Philosophen auf solche Weise der Dichtung Sinn und Richtung in ihrer erzieherischen Wirkung gibt, hat diese, ohne selbst die Idee darstellen zu können, Anteil an der Idee des καλόν. Die Analogie geht jedoch nicht ganz auf, insofern der Dichtung unter den ποιητικαί τέχναι (herstellenden Fähigkeiten), eine Sonderstellung zukommt (s.o.Κap.ΙΙΙ,4).

Dass in dem ganzen Passus des 10. Buches die Aufsicht des Philosophen nicht berücksichtigt wird, liegt, formal gesehen, an der Einseitigkeit des Standpunktes, durch die Platon das Verhältnis der Dichtung zur Wahrheit ganz klar herausarbeiten kann; es liegt aber außerdem an der Tatsache, dass hier in erster Linie die dramatische Dichtung und in Verbindung damit Homer, der πρτος τν τραγδοποιν (erste der Tragödiendichter), betrachtet wird, d.h. aber gerade die Dichtungsarten, die sich auf Grund ihrer gesellschaftlichen Erscheinungsform der Kontrolle des Philosophenherrschers am meisten entziehen.









4. Mimesis und Enthusiasmοs als Formen des philosophischen Daseins. Abgrenzung von der Dichtung


Der Begriff der Mimesis begegnet uns bei Platon nicht nur im Bereich der Kunst, er wird vielmehr zur Bezeichnung des Abhängigkeitsverhältnisses aller Seinsbereiche verwendet, indem nicht nur das Bild oder die Spiegelung Nachahmungen der Erscheinungswelt sind, sondern auch diese Welt der Erscheinungen abhängig gedacht wird von den Ideen als Modellen. Sobald in Platons Werk die Formulierung πο βλέπων ποιε τς τι (wohin schauend bringt einer etwas hervor?) o.a. auftritt, müssen wir bei ihm die Vorstellung eines modellhaften Eidos annehmen, nach dem die Dinge geformt werden.

Aber nicht nur das Herstellen einer Sache nach dem Paradeigma der Idee trägt den Charakter der Μimesis, wie z.B. die Anfertigung einer Spindel, die Bildung der Wörter durch den Gesetzgeber oder der Entwurf und die erstrebte Verwirklichung einer Politeia durch den Philosophen, sondern auch das Erkennen als ein geistiges Sehen des Eidos wird mit dem Begriff der Mimesis gekennzeichnet, insofern das Erkennen auch die Existenz des Erkennenden modifiziert und von daher auch sein Handeln bestimmt. So ist z.B. das gerechte Handeln eine Nachahmung der Idee der Gerechtigkeit in einer vom Subjekt ausgehenden Aktion; andererseits ist aber auch das Gerechtsein ebenfalls eine Nachahmung, allerdings nun eine existenzielle Angleichung an die Idee. Zu der darauf gerichteten ethischen Forderung tritt nun noch das religiöse Moment hinzu, indem Platon das Ziel der menschlichen Bildung in der μίμησις το θεο(Nachahmung des Gottes) sieht[88].

Unter dem Gesichtspunkt der Mimesis können wir nun für das Verhältnis von Philosophie und Dichtung zweierlei Unterschiede feststellen: Es ist einerseits der Gegenstand, der sich unterscheidet, da der Dichter seine Modelle in der Welt der Erscheinung, der Philosoph dagegen im Bereich der Ideen sucht; andrerseits unterscheidet sich Mimesis bei beiden auch dadurch, dass der Dichter - darin allen anderen herstellenden Handwerkern vergleichbar - ein von seinem Subjekt ablösbares Werk schafft[89], während die Mimesis des Philosophen in einer existenziellen Änderung zum Guten, in der Paideia besteht. Sehr deutlich wird dieser Gedanke in den Nomoi ausgesprochen, wo es heißt (817b), dass der Gesetzgeber der αντίτεχνος (Nebenbuhler) der Dichter sei, insofern beide eine μίμησις το βίου (Nachahmung des Lebens) erstreben; während die Dichter aber nur ihre Werke anzubieten haben, geht das Streben des Philosophen und Gesetzgebers nicht nur auf die theoretische Diskussion des besten Lebens und der besten Verfassung und deren literarische Fiktion, wie wir sie im Dialog vor uns haben, sondern vor allem auf die Verwirklichung als Nachahmung des besten Lebens in der Realität des Individuums bzw. der politischen Gemeinschaft.

Erinnern wir uns nun an die Untersuchung des dichterischen En-thusiasmos, so sehen wir, dass wir dort zu einer ganz parallelen Feststellung kamen[90], denn, so sahen wir, die dichterische μανία (Ekstase), der Εnthusiasmós, veranlasst den Dichter nur zu einer Objektivation, zum Kunstwerk, ohne dass ihm ein echtes Wissen vermittelt wird, während die Manía des Philosophen, der Eros, zu einer wirklichen Änderung des Subjekts, zur Annäherung an die Idee, an Gott, treibt.

Die Gleichheit dieser beiden Prinzipien, Mimesis und Manía, im Wirken des Dichters ebenso wie in dem des Philosophen schließt von vornherein die Vorstellung aus, dass es sich im Verhältnis beider Lebensformen um eine Rivalität zweier völlig verschiedener Wirkungsweisen handelt, denn gerade die Gleichheit ist es ja, die den scharfen Antagonismus, die klare Absetzung voneinander erforderlich macht; so kommt es an der oben erwähnten Stelle der Nomoi zum Ausdruck, stärker und für die Dichter empfindlicher noch in dem Verhältnis zu den Musen: Dass für Platon ein Verhältnis zu diesen Gottheiten besteht, zeigt grundsätzlich schon die Bezeichnung des Philosophen als μουσικός.

Νach allem, was bisher gesagt wurde, glaube ich, dass wir nun in der Lage sind, diese im 1. Teil als Problem vorgestellte Ausdrucksweise im Zusammenhang zu deuten. Dazu sei noch eine Phaidrosstelle herangezogen, die man an ihrem Ort zur Szenerie rechnen kann, die aber, wie meistens bei Platon, nicht als eine rein dichterische Ausschmückung gelten kann, sondern die große Darstellungskunst Platons zeigt sich eben darin, auch der Szenerie tiefere Bedeutung mitzugeben und sie dadurch innerlich mit dem Ganzen des Dialogs zu verbinden.
Von den Zikaden war schon zu Beginn des Dialogs die Rede als Sokrates in Verwunderung ausbricht über die Schönheit des Ortes, zu dem Phaidros sie hingeführt hatte (230b-d); auf diese Schilderung aber folgt sogleich der Hinweis des Sokrates auf seine φιλομαθία (Lernbegierde) und dass die Landschaft diese Begierde nicht befriedigen könne. Zwischen den Reden (238cd/241e) taucht dieses Motiv der Landschaft wieder auf, vor allem aber ihre begeisternde Wirkung auf Sokrates. Zu Beginn der dialektischen Untersuchung über die Grundlagen der Rhetorik weist Sokrates wieder auf die Zikaden hin (258e ff.), die über ihren Köpfen sich singend miteinander unterhalten (διαλεγόμενοι) und dabei auf sie herabsehen; sie würden lachen, wenn sie die Menschen von ihrem Gesang bezaubert (κηλουμέμους) in geistiger Trägheit einschlummern sähen. Wenn sie jedoch bemerkten, wie diese sich ebenfalls unterhalten und sich von ihrem Zaubergesang nicht berücken lassen, würden sie an ihnen Freude haben und ihnen das Geschenk, das sie von den Göttern für die Menschen erhalten haben, wohl geben. Dieses Geschenk wird nicht näher bestimmt, es ist aber sicher aus dem folgenden Mythos zu erschließen, von dem Sokrates sagt, dass ein φιλόμουσος (Liebhaber der Musen) ihn unbedingt kennen müsse:

Die Zikaden sind die Boten der Musen, sie berichten ihnen, in welcher Form die Menschen jede von ihnen verehren; besonders hervorgehoben werden dabei Kalliope und Urania, denen die Zikaden „von den Menschen melden, die ihr Leben mit Philosophieren verbringen und ihre Kunst (τν κείνων μουσικήν) pflegen, ihnen obliegt ja am meisten von den Musen das Himmlische sowie göttliche und menschliche Reden, und so lassen sie den schönsten Gesang ertönen." Dies ist also wohl das Geschenk der Musen: das Wissen über das Himmlische, die göttlichen und menschlichen Logoi und dazu der schönste Gesang. Es kommt aber nicht denen zu, die sich, wie die Dichter[91], in ekstatischer Bewusstlosigkeit befinden, sondern nur den Dialektikern, d.h. denen, die sich trotz aller Bezauberung von ihrer Unterhaltung (διαλεγόμενοι) nicht abbringen lassen.
So wird also das Geschenk, das in der Vorstellung des Enthusiasmós den Dichtern vorbehalten war, hier den Philosophen zuteil[92], diesen aber im Zustand höchsten Bewusstseins und des durch den Eros angetriebenen Strebens nach Erkenntnis. Demnach rechtfertigt sich aber der Angriff des Philosophen gegen die Dichter als Rivalität zwischen zwei Aktivitäten, die sich auf die gleichen Prinzipien berufen können, nämlich auf den Enthusiasmus und die Mimesis, durch den Anspruch des Philosophen, diese Prinzipien in höchster Weise adäquat zu verwirklichen, ein Anspruch, der im Phaidon (6la) in der Auffassung der Philosophie als der μεγίστη μουσική (höchsten Musik) angedeutet wird und auch sonst an allen Stellen, wo der philosophische Mensch als der wahre μουσικός bezeichnet wird[93].

Für Platons innere Biographie bedeutet das - wenn wir der antiken Überlieferung insofern folgen, als wir ein intimes Verhältnis Platons zur Dichtung in seiner Jugend annehmen - dass sich der Übergang zur Philosophie durch die Begegnung mit Sokrates nicht als Bruch darstellt, der eine innere Zerrissenheit im Verhältnis zur Dichtung zurückließ, sondern als eine geradlinige Entwicklung, durch die die angelegten Voraussetzungen auf die höhere Ebene des Logos gehoben wurden; denn von dem Dichter brauchte nichts unterdrückt, nichts verloren zu gehen, da in der Philosophie, so wie sie Platon versteht und verwirklicht, das Streben nach der höchsten Erkenntnis mit der der suggestiven Form, dem lebendigen erzieherischen Gespräch[94], eine Einheit eingeht, die als Geschenk der Musen verstanden, aber im Zustand höchster Bewusstheit empfangen wird.

Diese Auffassung Platons vom Wesen des Philosophierens wirft nun aber auch ein klärendes Licht auf die Bedeutung des Musenkultes in der Akademie. Während nämlich das Verhältnis des Dichters zur Muse auf Grund seines besonderen ekstatischen Charakters ein rein persönlich individuelles sein musste, konnte es sich in Platons Verständnis von Philosophie auf eine Gemeinschaft ausweiten.

Von einem stillen Nachdenken in der Einsamkeit hält Platon ebenso wenig wie vom reinen Lehrvortrag, bei den Sophisten erscheint beides immer als eine Ausflucht vor dem unnachgiebigen Fragen des Sokrates[95]. Von diesem selbst wird zwar als eine Kuriosität berichtet, dass er stundenlang auf einem Fleck stehend in Nachdenken versinken könne, von einer Erkenntnis als Ergebnis wird jedoch nie etwas berichtet[96] Das Erkennen vollzieht sich für Platon wesentlich im Gespräch; so hatte er es bei Sokrates kennengelernt, und so setzt er es in seinem Lebenswerk fort, denn so viel können wir von dem Bild, das uns die Dialoge bieten, mit Sicherheit auf das Leben in der Akademie übertragen, als dieses nicht im krassen Gegensatz stehen kann zu der Methode, wie sie in den Dialogen und im 7. Brief vorgeführt und oft nachdrücklich reflektiert wird. Es ist daher zu erwarten, dass die Akademie weder mit Studierstuben, noch mit dem Vorlesungsbetrieb moderner Universitäten vergleichbar ist, denn wir müssen doch zumindest annehmen, dass die in den Dialogen durchgeführte Methode - und diese bieten ja eine Reihe verwandter Gestaltungsmöglichkeiten - der Vorstellung Platons entsprach, die er auch in seiner Schule zu verwirklichen suchte. Wie weit das möglich war und wieweit es nach Platons Tod fortgesetzt wurde, wissen wir nicht, aber diese Analogie kann uns doch wenigstens im Allgemeinen über das Fehlen von konkreten Nachrichten hinweghelfen.
Nach Platons Vorstellungen aber geschieht das Lehren und Lernen, das Streben nach Erkenntnis im wesentlichen im gemeinsamen Gespräch; der persönliche Kontakt der Gesprächspartner ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der Dialog eine erzieherische Wirkung erreichen konnte, ein Heranführen und eine Angleichung an die Idee und dies verstanden als Verehrung und unter dem Beistand der Musen, wie es in der Deutung der Phaidrosstelle gezeigt wurde.

Eine ähnliche Auffassung des Lebens in der Akademie finden wir in einer Äußerung des Antigonos von Karystos über die in der Akademie üblichen Symposien (Athenagoras XII 547f-48a: ο γρ, να συῥῥυέντες π τ ατ τς ως το ρθρίου γενομένης τραπέζης πολαύσωσιν, χάριν ξοινίας ποιήσαντο τς συνόδους τατας ο περ Πλάτωνα κα Σπεύσιππον, λλ' να φαίνονται κα τ θεον τιμντες κα μουσικς λλήλοις συμπεριφερόμενοι ¤ denn nicht, um sich an der bis zum Morgengrauen sich hinziehenden Tischgesellschaft zu ergötzen oder wegen des Weinrausches machten sie diese Zusammenkünfte, die Leute um Platon und Speusipp, sondern dass sie sich als Menschen zeigen, die das Göttliche ehren und musisch miteinander verkehren.)

Der religiöse und dichterische Aspekt des philosophischen Gespräches zeigt sich aber auch im hymnischen Charakter, den Platon selbst den Dialogen zuschreibt, wenn er z.B. das ganze Gespräch der Politeia als ein εγκώμιον (Loblied) der Gerechtigkeit an sich betrachtet (Rep.367d) oder wenn in den Nomoi (ΙΙ.653d) der Athener seine Gesprächspartner auffordert zu untersuchen, πότερον ληθς μν κατ φύσιν λόγος μνεται τ νν (ob das, was unsere Rede nun künden will, wirklich der Natur der Sache gemäß als wahr anzusehen ist, oder ob es anders damit steht.) [97]. In dieser Auffassung der Musenverehrung verbindet sich bei Platon die pythagoreische Vorstellung des Musenkultes als suggestive Charakterbildung durch die Ordnungselemente der Musik[98] mit einem religiösen Verständnis des sokratischen Gesprächs, mit dem sich Platon in die Tradition altgriechischer "Weisheitsdichtung" einreiht, allerdings mit einem Werk, in dem sich Suggestion mit Reflexion verbindet auf der Bewusstseinsstufe, die allein die höchste Einsicht gewähren kann.


V. Soziologische Erklärung der Stellung Platons zur Kunst

1. Bedeutung des gesellschaftlichen Hintergrundes


Wir haben bisher das Phänomen der Dichtung, wie es sich in Platons Sicht zeigt, dargestellt und zu erklären versucht im Zusammenhang mit seiner Philosophie und konnten dabei zeigen, wie sich die Äußerungen Platons, die sich in dem Vorstellungskomplex von Mimesis und Enthusiasmós, sowie vom Nichtwissen der Dichter und der beschränkten erzieherischen Funktion der Dichtung bewegen, als eine weitgehend einheitliche Auffassung verstehen lassen und dass die scheinbaren Widersprüche erklärt werden können als einseitige Hervorhebung verschiedener Aspekte je nach dem Zusammenhang, in dem die Dichtung erscheint.

Dennoch mussten an einigen Stellen offene Fragen stehen bleiben und zwar besonders in der Frage nach Platons Stellung zur Tragödie, die für uns eine besondere Schwierigkeit darstellt, da es uns immer wieder unverständlich erscheinen muss, dass der Philosoph gerade die Dichtung am schärfsten und hartnäckigsten ablehnt, die in ihrem sittlichen und auch religiösen Bewusstsein ihm von allen andern Dichtern doch wohl am nächsten steht. Dem Bewusstsein dieser Paradoxie entsprangen einige Versuche, innere Beziehungen formaler und inhaltlicher Art zwischen der Philosophie Platons und den Tragikern aufzudecken[99]. Zur Lösung unseres Problems kann diese Methode jedoch kaum etwas beitragen, da sie die bewusste Ablehnung Platons nicht erklären kann, die sich eigenartigerweise nicht auf eine inhaltliche Kritik der Tragödie stützt, auch nicht auf den formalen Aspekt des mimetischen Charakters, wie wir gezeigt haben, sondern vor allem auf die Analyse ihrer Wirkung.

Wenn wir nun an die Lösung dieses Problems herangehen, müssen wir eine neue Betrachtungsweise einführen, indem wir das Werk Platons aus der Isolierung, in der wir es bisher betrachtet haben, befreien und die zugrunde liegenden historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten heranziehen. Dabei werden wir auf ein Phänomen stoßen, das nicht nur das Verhältnis Platons zur Tragödie zu erklären vermag, sondern im Zusammenhang damit auch

eine ganze Reihe anderer Züge seiner Philosophie: Es handelt sich um die gesellschaftliche Stellung Platons und um die Frage, wie weit sie sein Werk geprägt hat.

Die Herkunft Platons aus altattischem Adel, sein Aufwachsen in einer Umgebung, in der die alten Traditionen dieser Gesellschaftsschicht noch lebendig waren, wird allgemein nur im Zusammenhang mit seiner Biographie behandelt. Dabei wäre dieser Gesichtspunkt für das Verständnis Platons wichtiger als die Einordnung seiner Erscheinung in die Philosophiegeschichte, denn die Auseinandersetzung mit der Vorsokratik setzt ja bei Platon hauptsächlich erst in späterer Zeit, in der Phase des Theaitet und des Parmenides ein; außerdem konnte er für das Wesentliche seines Philosophierens, für den politischen Bezug aller Philosophie, von den bedeutenden Vertretern der Vorsokratik kaum Anregungen empfangen haben. Hierbei ist natürlich die Sophistik auszunehmen, von der Platon von Anfang an starke Impulse erhielt, die sich meist in Form von heftigen Reaktionen gegen ihr Auftreten manifestieren. In seiner Einschätzung dieser Bewegung zeigt sich jedoch, dass die Sophistik für ihn in erster Linie als gesellschaftliches Phänomen in Frage kam, ihre Wirkung in verschiedenen Kreisen der athenischen Gesellschaft war es, die seinen Angriff vor allem herausforderte; als philosophische Gegner konnten sie ihm kaum gelten.
Die Bedeutung der Herkunft Platons für sein Werk ist zwar verschiedentlich sehr deutlich gesehen worden, so schreibt z.B. Wilamowitz (Platon 13.S.l3): „Auch für Platon ist dies eine unerläßliche Vorbedingung des Verständnisses. Er gehört zur Gesellschaft; ihre Gesinnung ist ihm vom Vaterhause eingeimpft, und seine Dialoge halten sich in diesem Kreise." In diesem Sinne entwirft er in den ersten Kapiteln seines Buches ein breites und anschauliches Bild von der Umgebung, in der Platon aufgewachsen ist, und bietet darin ein äußerst umfangreiches Material. Für die weitere Darstellung wird dieser Gesichtspunkt jedoch kaum mehr fruchtbar gemacht. Diese weit verbreitete Betrachtungsweise - sie betrifft nicht nur die Platonforschung[100] - entspringt wohl der unbewussten Befürchtung, dass durch die durchgängige Einordnung in die soziale Umgebung der Einmaligkeit des Philosophen etwas abgehen könnte, was doch offensichtlich auf einer falschen Auffassung von Persönlichkeit und Individualität beruht.
Die Untersuchung der platonischen Haltung unter diesem Gesichtspunkt wäre Gegenstand einer ausführlichen Analyse; dabei würde sich als Haupttendenz wohl zeigen, dass Platon dem allgemeinen Verfall, der sich ihm vor allen in der Entwicklung der Demokratie und in den Wirkungen der Sophistik zeigt, zunächst in durchaus konservativer Haltung entgegentritt, die von altgriechischen, aristokratischen Vorstellungen genährt wird; diese werden jedoch von ihm in der Auseinandersetzung mit den Strömungen seiner Zeit und durch den sokratischen Impuls geprüft und neu begründet und dadurch auf eine ganz neue Bewusstseinsstufe gehoben. Deshalb kann man Platon trotz seiner konservativen Einstellung nicht als reaktionär bezeichnen, und seine Transformation alter Wertvorstellungen konnte für die Folgezeit wirksam werden, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem er sie konzipiert hatte, nämlich im umfassenden politischen Zusammenhang. Diese Tendenz soll hier am Beispiel der Stellung zur Dichtung gezeigt werden; da es jedoch unmöglich ist, dieses Problem isoliert zu betrachten, soll es mit einigen Bemerkungen in den Zusammenhang gestellt werden, in dem es bei Platon steht, in den des politischen Denkens.

2. Platons politische Haltung


Wenn wir von Platon als Politiker sprechen, denken wir zunächst an seine Staatsschriften und in enger Verbindung dazu an seine sizilische Praxis. Aus dem 7. Brief lernen wir jedoch eine ganz andere Einstellung zur politischen Aktivität kennen: Auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zu einflussreichen athenischen Politikern war sein Interesse von Jugend an auf die praktische Politik gerichtet und der Drang, aktiv daran teilzunehmen, geweckt. Dabei ist von einer eindeutigen Parteinahme für eine aristokratische Verfassung, wie sie sich in seinen Staatsschriften später durchsetzt, noch keine Rede. Die Beobachtung der Entwicklung Athens am Ende des 5-Jh. konnte ihn zunächst davon abhalten; Da war zunächst der oligarchische Umsturzversuch des Jahres 411, den Platon sicher schon mit Bewusstsein verfolgen konnte, und später dann die Herrschaft der Dreißig, an der Platon auf Grund persönlicher Verbindung, vor allem mit Kritias, interessiert war. Diese beiden Ereignisse brachten ihm also zunächst weitgehend negative Erfahrungen in Bezug auf eine Aristokratie, die noch durch sein Verhältnis zu Sokrates bestärkt wurden, so dass sich ihm die Demokratie in besserem Lichte zeigte. Diese positive Einstellung zur Demokratie als einer annehmbaren Aktionsbasis hat sich sicherlich auch nicht allein auf Grund des Prozesses gegen Sokrates gewandelt. Dieses Ereignis dürfte im Ganzen wohl nicht diese einschneidende Wirkung gehabt haben, die ihm allgemein zugeschrieben wird. Ein Beweis dafür ist u.a. Platons Haltung zu Aristophanes, der in der Apologie (18b-d) als einer der Hauptschuldigen für die Verleumdung und damit die Verurteilung des Sokrates zwar nicht genannt aber gemeint ist, den er aber im Symposion ohne irgendein Anzeichen von Vorwurf oder persönlichem Ressentiment einführt - so weit ging also das persönliche Engagement Platons für Sokrates nicht; Aristophanes erscheint im Symposion jedoch in erster Linie nicht als Komiker[101], sondern als Vertreter der besseren athenischen Gesellschaft und als "Intellektueller".

Zur radikalen Ablehnung der Demokratie kam Platon erst durch die Beobachtung der weiteren Entwicklung in Athen[102]. Noch im Menon werden einige ihrer Vertreter, zumindest der älteren Zeit, bis zu einem bestimmten Grade akzeptiert; der erste massive Ausdruck der Ablehnung findet sich im Gorgias.

Das aristokratische Bewusstsein in der Art wie Platon sich mit Politik beschäftigt, zeigt sich am deutlichsten im Kontrast zu Sokrates. Während für Platon politisches Interesse und politische Bildung von Haus aus als selbstverständlich gelten musste, konnte Sokrates zunächst als völlig unpolitisch erscheinen; erst auf Grund der Einsicht von der grundlegenden Bedeutung der Erziehung für den Staat konnte er als der wahre Politiker hingestellt werden, und dies geschieht eben im Gorgias (521d), wo die großen athenischen Politiker als solche strikt abgelehnt werden. Die Erziehungsarbeit des Sokrates konnte sich jedoch nur innerhalb der athenischen Staatsform verstehen, seine Kritik richtete sich immer nur gegen Details, gegen einzelne Missstände. Eine grundsätzliche Ablehnung lag seinem Wesen völlig fern und hätte auch seiner Arbeit jede Grundlage entzogen. Seine feste Verbundenheit mit Athen und seiner Verfassung wird ja ganz klar im Kriton dargestellt.

Platon dagegen steht der Politik seiner Stadt, man möchte fast sagen, souverän gegenüber, zuerst als interessierter Beobachter, dann, nach der prinzipiellen Ablehnung, als Neuschöpfer, hierin aber unter dem Zwang der Verhältnisse nur in theoretischer Hinsicht. Die Grundlage dieser Haltung hat schon die Antike richtig erkannt, indem sie in diesem Zusammenhang an Solon, den prominentesten Vorfahren Platons erinnert.[103]

Es wäre nun verfehlt, die Struktur des neuen Staatsentwurfs schlechthin als Zeichen aristokratischen Standesbewusstseins zu deuten; Aristokratie wird ja hier nicht mehr im herkömmlichen Sinne als Herrschaft eines Adelsstandes gesehen, einen solchen gab es in Athen schon lange nicht mehr. Wilamowitz zeigt in seiner Darstellung der athenischen Verhältnisse, wie sich unter dem Druck der Demokratisierung hier ein Wandel vollzogen hatte vom alten politisch privilegierten Adelsstand zu einer Gesellschaftsschicht im Sinne einer "high society", die sich durch eine besondere Lebenshaltung auszeichnete, und die als solche vom Volk anerkannt wurde. Auf Grund der geistigen Bildung, die in Athen zu dieser Lebenshaltung gehörte, und der wirtschaftlichen Grundlage behielt diese Schicht dann aber auch weiterhin die politische Führung und wurde darin auch weitgehend vom Volk bestätigt, soweit sie seine politischen Rechte nicht antastete. So kommt es, dass die Demokratie noch weitgehend aristokratischen Charakter hatte, soweit es die politische Führung betrifft, was sich z.B. in der platonischen Darstellung der athenischen Verhältnisse zur Zeit der Perserkriege zeigt[104]. Der Führungsanspruch konnte sich also nicht mehr auf ein Adelsprivileg stützen, sondern musste sich durch persönliche Fähigkeiten, und seien es auch rein demagogische, legitimieren. Platon führte diese Entwicklung, in die er durch seine Geburt hineingestellt war, konsequent weiter, indem er Aristokratie im Wortsinn verstand, nämlich als Herrschaft derer, die in jeder Hinsicht die άριστοι (Besten) sind, und zwar gemessen an absoluten Maßstäben, wie sie für ihn nur die Philosophie bieten konnte.

Das Bezeichnende für Platon ist nun, und hierin sehe ich vor allem den Ausdruck seiner aristokratischen Gesinnung, mit welcher Selbstverständlichkeit er die Anerkennung des Führungsanspruchs einer so verstandenen Aristokratie voraussetzt. Er geht darin so weit, dass er dieser Führungsschicht selbst jede sonst erforderliche wirtschaftliche Grundlage entzieht und ihren Anspruch rein auf ihre geistige und ethisch-politische Qualifikation gründet; dadurch würde Platon zwar erreichen, dass zwischen Herrschern und Beherrschten ein harmonisches Gleichgewicht hergestellt würde, jedoch nur unter der Voraussetzung eines festen Vertrauensverhältnisses beiderseits; diese Struktur erinnert aber deutlich an patriarchalische Vorstellungen altattischer Prägung. Es ist jedoch keineswegs einzusehen, wieso die breite Masse der Erwerbstätigen diesen Anspruch anerkennen soll, sobald sie sich der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Führungsschicht bewusst wird. Die Negierung ihrer privaten wirtschaftlichen Grundlage und der darin angelegten sozialen Konfliktstoffe ist umso auffallender bei einem Manne, der sich doch immer noch als Athener fühlte, d.h. als Bürger einer Stadt, in der diese Probleme in jahrhundertelanger Auseinandersetzung die politische Entwicklung bestimmt hatten.

Die Frage, woher das Vertrauen bzw. der Gehorsam des dritten Standes, der αρχόμενοι (die Beherrschten), kommen soll, wenn er nicht mehr durch feste Traditionen gewährleistet ist, wird von Platon nie so grundlegend gestellt, wie es diese Problematik erfordert hätte. Die einzige Möglichkeit wäre hier doch eine Erziehung, die auch die breite Schicht des Volkes erfassen müsste, um auch dort eine gewisse rationale Vorbedingung für die Anerkennung des Führungsanspruchs der Philosophie zu schaffen; aber gerade hier zeigt sich, dass Platon im Sinne der höchst problematischen Zuordnung der Seelenteile zu drei Ständen des Staates immer nur die Erziehung der Wächter und der daraus hervorgehenden Philosophenherrscher im Auge hat. So übernimmt er denn auch die althergebrachte, nur in aristokratischen Kreisen übliche und mögliche Erziehung durch Musik und Gymnastik, wenn auch in kritisch geprüfter Form, die dann durch die mathematische und dialektische Bildung überhöht wird.

Diese Haltung, für die die unteren Volksschichten nur als Masse der αρχόμενοι in Betracht kam, zeigt deutlich die aristokratische Gesinnung Platons, vor allem wenn man von hier aus wieder einen Vergleich zu Sokrates zieht. Der Gegensatz ist offensichtlich: Sokrates verkehrt nicht nur mit den Söhnen vornehmer Familien in den Gymnasien und in ihren Häusern, wie man aus den platonischen Dialogen fast schließen möchte; sein Hauptarbeitsplatz war doch wohl der Markt, wo er mit Vertretern aller Volksschichten Gespräche anknüpfte.

Eine solche Arbeitsweise lag der aristokratischen Natur Platons völlig fern. Als einen Kompromiss zwischen der sokratischen Erziehungsarbeit und seinen eigenen Möglichkeiten kann man wohl die Schriftstellerei seiner ersten Periode ansehen. Die eindeutige Hinwendung und Beschränkung auf die Heranbildung einer Elite vollzog sich dann in der Gründung der Akademie, an sich einer durchweg unsokratischen Erscheinung, in die Platon sein eigenes elitäres Bewusstsein hineintrug. Wie dieses Bewusstsein, diese strikte Abgrenzung gegenüber der Menge sich rein im Äußerlichen zeigte, davon geben uns noch einige erhaltene Komikerfragmente ein Bild[105].

3. Gesellschaftliche Bedingtheiten des platonischen Urteils über Kunst, besonders das attische Drama


Dass Platon der breiten Masse der Erwerbstätigen nur die Rolle der αρχόμενοι (Beherrschten) zuweist, ohne sich weiter um ihre Erziehung zu kümmern, kann nicht als bewusste Ablehnung oder Verachtung gedeutet werden; so wie nämlich dem unteren Seelenteil die Existenzberechtigung keineswegs abgesprochen wird, so erhält ja auch der untere Stand im Staatsganzen eine feste Stellung, wenn auch in völliger Abhängigkeit von der Vernunftherrschaft der Staatslenker. Die scharfe Kritik Platons richtet sich erst gegen eine Verfassung, in der die untere Klasse[106] zur herrschenden wird, wie es in der attischen Demokratie der Fall war. Im Zusammenhang mit der Ablehnung der athenischen Demokratie, und nur so, ist auch das Verhältnis Platons zur Dichtung zu verstehen.

Die tiefere Ursache dieser Haltung tritt vor allem dort offen zutage, wo sie sich mit der philosophischen Motivation nicht völlig deckt, so vor allem in der Differenzierung des Verhältnisses zu einzelnen Dichtern[107]. Im allgemeinen lässt sich dabei feststellen, dass Platon mit der Lyrik und mit dem Epos eine weit engere Verbundenheit zeigt als mit dem attischen Drama und dass dies nicht auf der inhaltlichen Kritik etwa ethischer oder religiöser Vorstellungen beruht, wie sie in den einzelnen Gattungen und Epochen zum Ausdruck kamen. So findet die Lyrik, besonders die Chorlyrik und hier wieder in besonderem Maße Pindar weitgehende Anerkennung[108], und die lyrischen Formen, die in der archaischen Zeit literarisch entwickelt wurden, werden ohne weiteres fast alle in den Modellstaat aufgenommen. Aber auch das Epos erscheint, selbst wenn es kritisch betrachtet wird, in besserem Licht, und auch an der Stelle, wo Platon das homerische Epos als Ganzes


ablehnt[109], erklärt er nachdrücklich seine tiefe Verbundenheit mit diesen Werken. Es handelt sich aber hier fast ausschließlich um eine Dichtung, deren Bindung, zumindest in ihrer Blütezeit, an die aristokratische Gesellschaft vom 8. bis zum Beginn des 5- Jh. einen konstitutiven Faktor darstellt.

Aber auch in der Stellung Platons zu dieser Dichtung kommt sein aristokratischer Charakter zum Vorschein. Denn wie die Dichter in der Adelsgesellschaft des frühen Griechentums kaum als standesgemäß anerkannt wurden[110] oder gar als übergeordnet in dem Sinne, dass ihre Aussagen als verbindlich oder als Rechtfertigung für das eigene Tun galten, wie es in späterer Zeit vielfach der Fall war[111], so steht auch Platon diesen Dichtern völlig frei gegenüber, erkennt ihren dichterischen Reiz und gegebenenfalls auch ihren Wahrheitsgehalt an, verfällt aber nie in eine Hingabe, die ihm eine Kritik ihrer Aussagen unmöglich machte.

Grundsätzlich anders zeigt sich uns die Haltung zum attischen Drama. Zwar fehlt es auch hier nicht an Zeichen der Anerkennung einzelner Vertreter, sie beziehen sich jedoch nicht auf deren Werk, sondern sind rein persönlicher Natur, wie etwa die Erwähnung des Sophokles im 1. Buch des Staates (329b ff.) oder das Auftreten des Agathon und des Aristophanes im Symposion; auch der Hinweis auf die unbezweifelbaren Kenntnisse des Sophokles und des Euripides in der Kompositionstechnik der Tragödie (Phaidr. 260c ff.) bedeutet ja keineswegs eine Anerkennung ihrer Dichtungen im Ganzen. Diesen Anzeichen persönlicher Hochschätzung steht aber z.B. ein Angriff gegen Euripides von ungewohnter ironischer Härte gegenüber und zwar an einer Stelle, an der ein solcher kaum erwartet wird (Rep. 568a-d). Platon zitiert hier einen Vers (σοφοί τυράννοι τν σοφν συνουσί[daß Tyrannen weise durch der Weisen Umgang sind), den er -wahrscheinlich noch zu Unrecht[112] - Euripides zuschreibt, um ihn damit als Lobredner der Tyrannen hinzustellen und ebenso die Tragödie überhaupt, die nur auf dem Boden der Tyrannis und an zweiter Stelle auf dem der Demokratie gedeihen könne.

Dass hier ausgerechnet Euripides als Tyrannenschmeichler herausgestellt wird - andere, z.B. auch Pindar, hätten sich doch dazu viel eher angeboten als gerade Euripides - zeigt wie sonst wohl keine platonische Äußerung polemischen Charakter, fast eine gehässige Verleumdung. Alle diese einzelnen Äußerungen betreffen noch nicht das grundsätzliche Verhältnis Platons zum Drama, denn die strikte Ablehnung der Tragödie stützt sich nicht auf inhaltliche Kritik einzelner Werke. Sie stützt sich auch nicht auf eine durchgehende formale Argumentation, etwa vom Begriff der Mimesis aus, denn wir haben gezeigt, dass die Ablehnung sowohl im 3- als auch im 10. Buch der Politeia nicht mit dem mimetischen Charakter an sich begründet wird, sondern dass hier jedes Mal eine gewisse inhaltliche Bestimmtheit des Objekts der Mimesis den Ausschlag gibt. Im 7. Buch der Nomoi (817) fällt dann dieses Argument ganz weg, da sowohl die Gesetzgeber als auch die Dichter als Mimetaí bezeichnet werden[113] Hier gründet sich die Ablehnung nur auf die Feststellung der unvermeidbaren Rivalität zwischen Gesetzgeber und Tragiker.

Die eigentliche Motivation wird als solche von Platon nirgends ausdrücklich behandelt, wohl weil sie ihm selbst nicht ganz bewusst war, sie kommt aber dennoch an mehreren Stellen implizit zum Vorschein: Dieser tiefere Grund ist nämlich der durch und durch demokratische Charakter des attischen Dramas, der sich einerseits in seiner Erscheinungsform, andrerseits in der Wirkung auf die Gesellschaft zeigt, wobei in der Entwicklung sich beide Faktoren in Wechselwirkung durchdringen.

Unser Bild von der attischen Tragödie stützt sich trotz aller Fragmentsammlungen und trotz vieler Untersuchungen über die Aufführungspraxis und die Wirkungsgeschichte weitgehend auf die Betrachtung der relativ wenigen vollständig erhaltenen Texte; die Ursache dafür ist eine Art der Interpretation, die noch immer weitgehend an der Trennung zwischen rein philologischer Betrachtungsweise und historisch-archäologischer Untersuchung der sozialen Zusammenhänge festhält. Diese einseitige Methode ist schon in der aristotelischen Poetik angelegt, indem sie nämlich eine Unterscheidung und Rangfolge verschiedener konstitutiver μέρη (Bestandteile) durchführt und diese einzeln untersucht; damit wird zwar einerseits die Vorbedingung einer wissenschaftlichen Untersuchung des Phänomens geschaffen, zugleich aber auch die Richtung auf eine rein ästhetische Betrachtungsweise eröffnet.

Platons Bild von der Tragödie ist dagegen durchaus plastisch, eine Beurteilung auf Grund bloßer Lektüre, wie es Aristoteles für möglich hält[114], indem er von den "Äußerlichkeiten" abstrahiert, liegt ihm völlig fern, sein Urteil bezieht sich immer, auch wo einzelne Aspekte im Vordergrund stehen, auf das Gesamtphänomen, einschließlich seiner Wirkung. Gerade die Intensität der Wirkung auf "die Menge" war ja für ihn erst der Anlass, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen, und er verurteilte eine Entwicklung, die auf die Erzielung dieser Wirkung ausgerichtet war, indem sie die Leidenschaften und die δονή (Vergnügen) der Menge mobilisierte.

Die enorme Wirkung des Dramas beruht nun jedoch nicht in erster Linie auf der Struktur des Handlungsaufbaus oder der Konzeption der Charaktere, sondern sie wird weitgehend von dem erzeugt, was Aristoteles zwar als μέγιστον τν δύσματων (das stärkste der Gewürze) und als ψυχαγωγικόν (Seelen führend), aber auch als das Kunstlosestete und Äußerliche bezeichnet (Poet.1450. 15ff.), nämlich von der Musik, dem Tanz und von dem ganzen Apparat der

Inszenierung, der Fähigkeit der Schauspieler[115], der Dekoration und was sonst alles zur "Atmosphäre" des Theaters gehört. Es ist eine Feststellung, die man auch heute immer wieder in Theatererfahrungen bestätigt finden kann, dass nämlich schlechte Stücke durch die Inszenierung zu höchster Theaterwirkamkeit gesteigert werden können und umgekehrt. Daraus folgt aber, dass man die Wirksamkeit eines Stückes nicht aus der Lektüre ermessen

kann, besonders wenn es sich um ein Kunstwerk aus Wort und Musik handelt - man stelle sich vor, wir müssten uns anhand des Textbuches ein Bild von einer Wagneroper machen.

Obwohl wir nun von der griechischen Tragödie nur einen kleinen Rest an Texten besitzen, uns also alle konkreten Mittel für eine adäquate Vorstellung vom attischen Theater fehlen, wäre es für das Verständnis der Tragödie und hier besonders der Stellung Platons zur Tragödie notwendig, die möglichen Ausmaße ihrer Wirkung immer im Bewusstsein zu halten. Dies nämlich können wir allein schon aus ihrer Bedeutung erschließen, aus der Tatsache, dass sich die dramatischen Aufführungen in Athen bald zum Hauptstück der musischen Agone entwickelten und dass sich ihre Stellung im 4. Jh. offenbar noch verstärkte, als das Drama auch in anderen griechischen Städten Fuß fasste[116]. Dass man das höchst kostspielige[117] Vergnügen von so zahlreichen jährlichen Uraufführungen und Neuinszenierungen durch Jahrhunderte hin ermöglichte, zeugt von einem starken allgemeinen Interesse, das nur auf der spezifischen Wirkung des Dramatischen beruht, wie sie das Epos oder der Dithyrambos und die Lyrik überhaupt nie erzeugen konnten[118]. Diese Intensitätsskala von der Lyrik über das Epos zum Drama erklärt letztlich allein die Massenwirkung der Tragödie, da nur sie auf Grund ihrer starken Impulse auch die breite Masse des Volkes erfassen konnte, die nicht durch eine höhere Bildung einen verfeinerten Geschmack und ein Verständnis für schwierigere Kunstformen entwickeln konnte. Dies ist aber auch die Ursache dafür, dass sich das Drama nur dort entfalten konnte, wo die Menge des Volkes politische Geltung hatte, in der Demokratie also. Wenn Platon in der oben erwähnten Invektive gegen Euripides und die Tragödie (Rep.568a-d) vor der Demokratie die Tyrannis als Nährboden der Tragödie nennt, so entspricht diese Feststellung ganz der historischen Entwicklung des attischen Dramas, sie basiert aber vor allem auf der wichtigen Einsicht, die auch im 8. Buch der Politeia dargelegt wird (566de), dass in der Tyrannis in Athen das Volk, wenigstens in der ersten Zeit nach der Usurpation, bevorzugt wird gegenüber dem Adel, da es dem Tyrannen ja meist zur Macht verholfen hat.
Mit der Meinung, dass die Tragödie geringer zu schätzen sei als das Epos, da sie sich an die φαλοι (schlechten), d-h. die πολλοί (die Vielen) richte, setzt sich Aristoteles im 26. Kap. der Poetik auseinander. Für ihn betrifft dieses Argument nur das Nebensächliche, die υποκριτική ( schauspielerisch), die ihrerseits als Mimesis verstanden nur dann abzulehnen sei, wenn sie schlechte Charaktere darstelle, das Wesentliche aber könne vom Äußeren der Aufführung abstrahiert beurteilt und somit von den Gebildeten geschätzt werden. Die ganze Argumentation zeigt deutlich, mit wessen Einstellung sich Aristoteles hier im Besonderen beschäftigt: mit Platon nämlich, dessen Verhältnis zur Tragödie einen Teilaspekt seiner Stellung zur Demokratie darstellt.

Für einen attischen Aristokraten war diese Haltung nicht von vornherein festgelegt, denn wie sie es vielfach als ihre Aufgabe ansahen, leitende Ämter in der Demokratie zu übernehmen, so gehörten ja auch die großen Tragiker der Erb- oder Finanzaristokratie an und fühlten sich innerlich mit ihrer Stadt verwachsen. Auch für Platon lag diese Tendenz zunächst nahe; so hat er sicher auch das Theater mit regem Interesse besucht - ob dieses Interesse bis zur eigenen Produktivität ging, sei dahingestellt - und andrerseits wandte er sich der athenischen Politik zu. Aber in seiner Haltung unterscheidet er sich durchaus auch von anderen Standesgenossen, er mischt sich nicht begeistert in das Leben der Demokratie, wie z.B. Alkibiades oder auch der junge Perikles getan hatten, er verhält sich abwartend und zeigt damit, dass er noch in ganz anderen Traditionen lebt und denkt als diese. Je mehr er aber zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, wird die abwartende Haltung zur kritischen Distanz und endlich zur radikalen Ablehnung, zuerst wohl der Tragödie, dann aber der ganzen Staatsform als solcher.

Lehrreich ist auch hier wieder der Gegensatz zu Sokrates, seiner sozialen Stellung nach ein Mann aus dem Volk, ein Handwerker. Er besuchte sicher häufig das Theater und soll ein begeisterter Anhänger des Euripides gewesen sei», wodurch er sich schon vor dem allgemeinen Geschmack des Publikums seiner Zeit auszeichnete, das diesen Dichter offenbar wegen seiner Neuerungen nicht allzu sehr schätzte. Er übte auch Kritik, so soll er einmal bei einer Aufführung der euripideischen Elektra bei Vers 379 ostentativ das Theater verlassen haben (Diog. Laert. II.33); fassen wir diese Nachricht weniger historisch als typisch, so wird er damit als Einzelgänger gekennzeichnet mit einer starken Eigenständigkeit in seinen Überzeugungen, bleibt aber dennoch mit seiner Kritik im Rahmen des allgemeinen Verhaltens, denn auch das übrige Publikum gab, wenn es an einer Aussage des Dichters Anstoß nahm, lebhaft sein Missfallen kund, konnte sogar die weitere Aufführung dadurch blockieren[119], es richtete sich dabei jedoch - und ebenso Sokrates - immer nur gegen Details oder auch gegen ein ganzes Werk, nie aber gegen das Theater als solches, dessen Existenz ihm ebenso selbstverständlich war wie die athenische Verfassung.

Nun soll gerade Sokrates den jungen Platon dazu gebracht haben, sich von der Dichtung und vom Theater als solchem abzukehren; in dieser unmittelbaren Form kann man sich diesen Vorgang nicht vorstellen. Es muss eher so verstanden werden, dass Platon durch die Begegnung mit Sokrates die Impulse empfing, die ihn zu seinem aristokratischen Selbstbewusstsein führten und damit auf den eigenen Weg. Sobald dieses Bewusstsein aber befestigt war,  konnte die Haltung zur Tragödie und zum Theater keine Frage mehr sein; hier wirkte dieselbe aristokratische Abneigung gegen das Schauspiel, die auch in Rom herrschte, wo es für einen freien Mann als kompromittierend galt, als histrio (Schauspieler) öffentlich aufzutreten[120], und diese Haltung setzt sich auch in der Neuzeit weithin fort, man denke da etwa an das Lebensschicksal Molières. In diesem Sinne verlangt Platon z.B., dass die Komödie, soweit sie in den Nomoi zugelassen wird, nur von Sklaven und bezahlten Fremden gespielt werde, nie aber von einem Freien (Nom. 8l6e). Eine ausführliche Begründung bietet er dazu im 3. Buch der Politeia, wobei für unseren Gesichtspunkt besonders folgendes Argument in die Augen fällt (396d): Ein καλός κ'γαθός (schön und gut) wird sich schämen und sich sträuben, einen schlechteren Charakter oder auch einen guten in einer unwürdigen Verhaltensweise nachzuahmen, es sei denn im Scherz. Indem Platon daraufhin ausführt, dass ein solcher Mensch sich der epischen Form bedienen wird, in der Mimesis und Erzählung gemischt sind, so zeigt er, dass er im Ansatz schon ein öffentliches Auftreten im Drama auch als Darsteller guter Charaktere gar nicht in Erwägung zieht, es scheidet für ihn von vornherein aus. Dabei war es ja gerade in Athen keine Schande, auch für einen Aristokraten, im Chor oder als Schauspieler aufzutreten; dazu mag außer der demokratischen Einwirkung auch der ursprünglich religiöse Charakter des Dramas beigetragen haben.


Das bedeutet jedoch nicht, dass es in Athen nicht auch eine Aristokratie gab, die sich völlig gegenüber diesen neuen Lebens- und Kunstformen abkapselte; außer Platons allerdings in höchst sublimierter Form sich bezeugender Gesinnung kennen wir aus dem 5.Jh. einen Vertreter dieser Aristokratie, die sich politisch und in ihrer Lebenshaltung möglichst von der Demokratie absonderte, ich meine den Verfasser der pseudoxenophontischen „Athenaíon politeia“, dessen Zeugnis für uns umso wichtiger sein müsste, als er meines Wissens der einzige Autor der älteren Zeit ist, der eine radikale Ablehnung der Demokratie offen ausspricht; er spricht jedoch damit sicherlich für eine ganze Gruppe.

Zu dem Aspekt der personalen Ehrenhaftigkeit kommt nun speziell für das attische Theater ein zweites Moment hinzu, das in den Augen eines Aristokraten wie Platon schon früh ein Misstrauen wecken musste: die Stellung des Publikums. Zwar hat auch im neuzeitlichen Theater das Urteil des Publikums einen gewissen Einfluss auf die Theaterproduktion, aber dieser Einfluss ist doch meist sehr unbestimmt. In Athen dagegen stand auf Grund des agonalen Charakters der Aufführungen das Urteilen, die Entscheidung zwischen mehreren Angeboten weit stärker im Vordergrund.
Das Volk hatte hier zwei Möglichkeiten, das Urteil zu beeinflussen: Es wählte einerseits die Vertreter der Phylen, aus denen die zehn Mitglieder der Jury ausgelost wurden, hatte dann aber auch noch die psychologische Möglichkeit, durch Beifall oder Missfallen auf das Urteil einzuwirken. Dass es davon lebhaften Gebrauch machte, ist allein schon aus Platons Darstellungen ersichtlich[121], dem die μουσοι βοα πλήθους (unmusischen Schreie der Menge) (Nom. 700c) naturgemäß äußerst verhasst sein mussten. Es ist jedoch anzunehmen, dass sowohl die Wahl der Mitglieder der Jury als auch der Beifall des Publikums von allen möglichen Faktoren der Sympathie mehr bestimmt war als von einem objektiven Kunstverständnis, und es ist daher sicher verfehlt, den athenischen Kunstrichtern und damit doch letztlich dem Publikum ein einigermaßen adäquates Urteil zuzutrauen auf Grund der zahlreichen Siege, die Aischylos und Sophokles zuerkannt wurden[122]; gerade die Tatsache, dass der Oidipus Tyrannos nicht den Preis erhielt und dass auch die meisten Stücke des Euripides durchfielen, zeigt doch, dass wir die Urteilskraft der Athener nicht überschätzen dürfen.
Platon erwähnt die Jury als demokratische Institution Athens nirgends, seltsamerweise spricht er in diesem Zusammenhang von einem Σικελικός τε και Ιταλικός νόμος (Sizilischer und Italischer Brauch) (Nom. 659b), nach dem das gesamte Publikum durch Handaufheben den Sieger im Agon bestimmte. Auch in der bereits erwähnten Darstellung der Entwicklung des athenischen Theaters von der Aristokratie zur Theatrokratie (Nom.700a-701b) geht es Platon nicht um das Juristische der Institution sondern um deren faktische Realisation; diese erscheint aber seinen Augen als eine Herrschaft des Publikums (θεατροκρατία), der sich die Richter unterwerfen.

Als eine Alternative zu diesem Zustand bestimmt Platon (Nom. 658e-659c) die Aufgabe des Kunstrichters auf Grund der erzieherischen Funktion der Kunst: Ausschlaggebend ist das Urteil dessen, der sich durch Areté und Paideia auszeichnet. Beides ist aber in der – immer im echten Wortsinn von άριστος (bester) zu verstehenden – aristokratischen Auffassung Platons nur ganz wenigen erreichbar[123]. Demnach heißt es dann (659a): „Denn der wahre Richter darf seine Entscheidung weder fällen, indem er vom Publikum lernt, d.h. unter dem Einfluss der lärmenden Menge und seines eigenen Μangels an Bildung (απαιδευσία), noch auch darf er gegen sein besseres Wissen (γιγνώσκοντα) aus Feigheit und Furchtsamkeit aus demselben Μunde, mit dem er unmittelbar vor dem Urteil die Götter zu Zeugen anrief[124], als Lügner die Entscheidung leichtsinnig aussprechen. Denn der Richter hat seinen Platz, wie es jedenfalls billig wäre, nicht als Schüler sondern eher als Lehrer der Μenge und damit er sich denen widersetze, die den Zuschauern das Vergnügen (δονή) nicht in angemessener Form und nicht richtig verschaffen." Auf diese Weise werden die Dichter, die ihre Produktion immer nach dem Niveau dessen ausrichten, der sie beurteilt, angehalten sein, bessere Charaktere darzustellen und so auch das Publikum vermöge der δονή, die auch solchen erzieherischen Werken eigen ist, wenn sie nur künstlerisch gut sind, zum Besseren führen, zu dem Besseren, das in den aristokratischen Wertvorstellungen der Richter als Ziel erstrebt wird.

Die bedeutende Leistung Platons liegt nun darin, dass er einerseits über die Einzelkritik des Sokrates hinaus das Phänomen der Kunst als Ganzes und mit allen gesellschaftlichen Bezügen in Betracht zog, andrerseits darin, dass er dabei seine traditionsbedingte Grundhaltung als solche nicht direkt zum Ausdruck bringt[125], sondern von seiner aristokratischen Einstellung her durch die Konfrontation mit den athenischen Verhältnissen und mit Sokrates tief in die Problematik eindringt und von daher zu einer philosophischen Begründung kommt, die sein aristokratisches Bewusstsein nur mehr oder weniger stark durchscheinen lässt; im Ganzen jedoch kann dieses als die tiefere Ursache des gesamten Komplexes nur indirekt erschlossen werden. So lehnt Platon z.B. die schauspielerische Mimesis nicht einfach ab, weil sie unehrenhaft sei, sein Urteil beruht vielmehr auf einer Analyse der ethischen Grundlagen und Konsequenzen einer solchen Mimesis. Ebenso stützt sich seine Ablehnung der Tragödie auf eine tiefgreifende Untersuchung der politischen und sozial-ethischen Funktion des Theaters und der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Kunst. Dabei gelangt Platon, meiner Ansicht nach, zu weit tieferen Einsichten in das Wesen der Kunst als es z.B. der aristotelischen Betrachtungsweise möglich war.

Nur dadurch aber verdienen Platons Vorstellungen, selbst wenn wir die tiefere Ursache seiner persönlichen Entscheidung, seine aristokratische Gesinnung, nicht teilen, immer wieder unser Interesse, wenn wir uns mit dem Phänomen der Kunst beschäftigen.















VI. Platonische Gedanken bei Brecht


Zum Schluss soll ein Blick auf ein Gebiet der modernen Literatur die Problematik der Stellung Platons zur Dichtung aus der Isolierung lösen, von dem Nimbus der Absonderlichkeit befreien, in dem sie meist gesehen wird. Dazu bietet sich uns ein Phänomen an, das von den meisten Zeitgenossen noch vielfach als banal oder als minderwertige Literatur abgetan wird, nämlich die sogenannte engagierte Kunst. Zwar verdient vieles, was sich als solche ausgibt, durchaus das abschätzige Urteil; wir können hier jedoch einen ihrer Vertreter namhaft machen, den man mit dem Urteil des Banalen oder der künstlerischen Unfähigkeit wohl kaum beiseite schieben kann: Bertolt Brecht.

In den theoretischen Schriften Brechts zum Theater begegnen wir immer wieder dem Namen des Aristoteles[126]; allerdings handelt es sich bei der hauptsächlich aufgegriffenen Thematik, dem Komplex des Katharsisbegriffs, nicht um eine Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik, sondern eher um eine Kritik der Theorie und Praxis des neuzeitlichen "aristotelischen Theaters", das weitgehend auf einem falschen Verständnis des Aristoteles basiert, was jedoch über den Wert dieses Theaters noch nichts besagt. Indem Brecht sich von diesen "aristotelischen" Theorien absetzt, rückt er in seiner neuen Kunsttheorie vielfach in die Nähe platonischer Vorstellungen, ohne dass der Name unseres Philosophen genannt wird. Es kann ja auch nicht die Aufgabe des Dramatikers Brecht sein, sich intensiv mit Platon und Aristoteles zu beschäftigen; für uns aber wird es zum Verständnis der platonischen Problematik außerordentlich förderlich sein, hier die Parallelen und Divergenzen zu zeigen.

Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen der platonischen Auffassung und Brecht ist die Tendenz, Dichtung nicht isoliert zu betrachten, sondern sie wesentlich in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen und zu beurteilen. So wie Platon nämlich durch die Kritik insbesondere der athenischen Verhältnisse und im Zusammenhang mit seinem Bemühen um die Erarbeitung eines neuen Staatsmodells auch für die Dichtung neue Maßstäbe findet, so kommt auch Brecht durch die Feststellung, dass das

aristotelische Theater der historischen Situation, die er als eine Zeit des Klassenkampfes definiert, nicht mehr gerecht sei, zu einer neuen Theorie des Theaters.

Die Grundlage, auf der eine neue funktionsgerechte Dichtung begründet wird, ist das Wissen, bei Platon durch die Überwachung der Kunst durch den Philosophen und Staatsmann repräsentiert[127], bei Brecht in dem Auftreten des Philosophen im Theater, so z.B. im "Messingkauf", dem Dialog über die neue Dramatik, in dem der Philosoph die neue Theorie gegenüber dem Dramaturgen und den Schauspielern vertritt und diese dazu überredet, ihre Fähigkeiten in seinen Dienst zu stellen. Nun lässt sich bei aller Verschiedenheit des Begriffs von Philosophie bei Platon und bei Brecht doch feststellen, dass sich beide in ihrem politischen Denken nicht nur das Ziel setzen, Einsichten zu gewinnen über die Natur des Menschen im Zusammenhang der sozialen Verhältnisse, sondern auch die Möglichkeiten einer radikalen Neuordnung der Verhältnisse zu zeigen und, soweit es in ihrer Macht steht, diese zu schaffen, der eine nämlich durch seine Erziehungsarbeit in der Akademie und in seinen Schriften sowie in den praktischen Ansätzen in Sizilien, Brecht durch seine Theaterproduktion, die auch als Erziehung zu verstehen ist.

Während aber bei Platon die Philosophie für die Dichtung nur Grundsätze aufstellt und sie danach beurteilt und kontrolliert, andrerseits der Dichter sich auf Grund des Sondercharakters der Kunst damit selbst nicht ändert, verlangt Brecht, indem er die Vorstellung von der dichterischen Inspiration ablehnt, dass der Dichter unmittelbar von der Philosophie (Wissenschaft) lerne und das Wissen, das er sich auf diese Weise aneignet, völlig in Dichtung umsetze. „Sie sind es gewohnt, in Dichtern einzigartige, ziemlich unnatürliche Wesen zu sehen, die mit wahrhaft göttlicher Sicherheit Dinge erkennen, welche andere nur mit großer Mühe und viel Fleiß erkennen können. Es ist natürlich unangenehm, zugeben zu müssen, dass man nicht zu diesen Begnadeten gehört. Aber .... ich muss sagen, ich benötige die Wissenschaften."[128] „So wie der gewöhnliche Richter bei der Aburteilung kann auch ich mir nicht ohne weiteres ein ausreichendes Bild von dem seelischen Zustand eines Mörders machen. Die moderne Psychologie von der Psychoanalyse bis zum Behaviorismus verschafft mir Kenntnisse, die mir zu einer ganz anderen Beurteilung des Falles verhelfen, besonders wenn ich die Ergebnisse der Soziologie berücksichtige und die Ökonomie sowie die Geschichte nicht außer acht lasse. .... Was immer an Wissen in einer Dichtung stecken mag, es muss völlig umgesetzt sein in Dichtung."[129]

Gemeinsam ist beiden Auffassungen auch die Bestimmung der Wirkungsart der Kunst als Suggestion, als Erregung von Empfindungen, und zwar in ganz bestimmte Richtung gelenkter Empfindungen; Platon bezeichnet diese Reaktion, die die Dichtung hervorrufen soll als δονή (Vergnügen), Brecht als Lust oder als Vergnügen. Bezeichnend ist dabei, dass beide erst in ihrer Spätzeit zu einer ausdrücklichen positiven Hervorhebung dieses Faktors gelangten. So steht in der Politeia die Frage nach den Werten, die durch die Kunst den Menschen vermittelt werden sollen, die nicht bzw. noch nicht zu intellektueller Erziehung fähig sind, durchaus im Vordergrund; die Forderung, dass jedes Kunstwerk, ganz abgesehen von seinem ethischen Gehalt, durch die δονή wirken müsse, wird dagegen erst auf der Stufe des Philebos und ausführlicher in den Nomoi thematisch. Ebenso steht auch in Brechts theoretischen Schriften zunächst das Lehrhafte des Theaters im Vordergrund, während später, etwa im "Kleinen Organon für das Theater" (1948) die Notwendigkeit des Vergnügens in aller Kunst stärker betont wird[130]. In beiden Fällen handelt es sich dabei keineswegs um eine Änderung der Auffassung, nicht einmal um eine Erweiterung der Gesichtspunkte, sondern nur um eine Akzentverschiebung innerhalb eines Vorstellungskomplexes, der schon im Ansatz in allen wesentlichen Punkten vorhanden war.

Der Unterschied zwischen der Theorie Brechts und Platons setzt nun auch hier wieder ein, wo wir uns von der grundsätzlichen Bestimmung der Wirkungsweise als δονή zur Auswertung der hervorgerufenen Empfindungen wenden. Wie bei Platon echtes Wissen und Dichtung getrennt sind, indem den Dichtern jedes wirkliche Wissen abgesprochen wird und die Dichtung nur durch die richtungsweisende Funktion der Philosophie erzieherisch wirken kann, so ist auch diese Wirkung bei dem rezeptierenden Subjekt vom rationalen Erkennen weit geschieden:

Dem jungen Menschen oder dem unphilosophischen Erwachsenen wird eine ethische Haltung suggeriert, die ihm in der Konfrontation mit seinen Lebenserfahrungen zur Entwicklung einer αληθής δόξα (wahren Meinung) verhelfen kann, nie aber durch wahre Erkenntnis begründet werden kann, falls nicht eine lange intellektuelle Bildung hinzukommt. Bei Brecht dagegen eignet sich der Dichter selbst Wissen an, dadurch ist er auch in der Lage zu lehren; er wird demnach sein Werk so gestalten, dass es einerseits durch Empfindungen ein starkes Engagement für die behandelte Sache im Zuschauer weckt, andrerseits aber auf ein wirkliches Lernen auf Grund von eigener Reflexion hinarbeitet. Brecht versucht, diese Doppelwirkung zu erreichen durch die Mittel des sogenannten epischen Theaters, besonders durch die Verfremdungstechnik, durch die der Zuschauer immer wieder gehindert wird, sich in völliger Einfühlung in das dramatische Geschehen zu verlieren.

Hierin kommt nun der wesentliche Unterschied zwischen der aristokratischen Haltung Platons und der proletarischen Einstellung Brechts zum Vorschein, der auch ihr politisches Denken jeweils bestimmt. Man schreibt Platons Staatsentwurf mit Recht kommunistischen Charakter zu; er enthält alle Merkmale einer Kommune. Der grundsätzliche Unterschied zu einem christlichen und zum marxistischen Kommunismus besteht darin, dass bei Platon die Kommune von einer Elite, von den άριστοι gebildet wird, weil nach seiner Meinung nur eine solche dazu fähig ist und diese andrerseits nur so ihre Führungsaufgaben ausführen können; die Masse des Volkes bleibt dagegen in einer privatwirtschaftlichen Ordnung als steuerzahlende Unternehmer, Arbeiter usw., in völliger politischer Abhängigkeit von den Philosophenherrschern und ihrer geistigen und militärischen Macht. Im Marxismus dagegen werden alle Glieder der Gemeinschaft gleichmäßig in Kommunen erfasst; dies bedeutet nicht, dass nicht auch hier die άριστοι nach ihren Fähigkeiten leitende Funktionen ausüben, ein Gesichtspunkt, der von einem einseitig verstandenen Leninismus besonders in den Vordergrund gestellt wird. Um aber einen echten sozialistischen Kommunismus verwirklichen zu können, wäre es unumgänglich, dass möglichst alle Mitglieder der Kommune Einsicht erhalten in die Vorgänge, die sie betreffen.

Die Polarität, die sich hierin darstellt, bezeichnet ein immer wieder auftretendes Spannungsverhältnis der politischen und sozialen Realität: Der Feststellung, dass die äußeren und inneren Gegebenheiten zu einer umfassenden Einsicht in die Vorgänge und Verhältnisse nur für wenige jeweils realisierbar sind, steht das durch viele historische und aktuelle Erfahrungen begründete Misstrauen gegen eine Regierung gegenüber, die sich durch bessere Einsicht legitimieren sollte, aber doch immer wieder, selbst wenn sie einmal solche besitzt, durch den Faktor der Macht mehr oder weniger korrumpiert wird.

Αus diesen Voraussetzungen ist auch die Arbeit Brechts zu verstehen als ein Beitrag zum Abbau dieses Spannungsverhältnisses, ein Versuch, mit einem so wirksamen Mittel, wie es das Theater darstellt, die Vielen zu einem Selbstbewusstsein in kritischer Reflexion zu führen. Wenn wir allerdings nach der tatsächlichen Wirkung Brechts fragen und dabei feststellen, dass es möglich ist, sei es in Ostberlin oder in München, dass ein Stück Brechts wie jedes andere auch als schöne Unterhaltung ohne weitere Konsequenzen konsumiert werden kann, so werden wir wieder auf eine Feststellung hingewiesen, die wir bei Platon bestätigt fanden (s.o.S.55f) und der sich Brecht noch in größerem Maße bewusst war, dass nämlich die Wirkung der Kunst immer nur relativ sein kann; das bedeutet aber für uns, dass sie nur insofern erzieherisch wirksam wird, als alle Strukturen innerhalb der Gesellschaft in dem Sinne gestaltet werden, dass sie eine kritische Reflexion jedes Einzelnen ermöglichen und fördern.


















ANHANG

Anmerkung zu S. 58: Mythos und Geschichte

Wir müssen deutlich unterscheiden, da philosophische Gedanken hier mit Elementen des griechischen Volksglaubens durchsetzt sind. Der Begriff der γένεσις (Entstehung) ist einerseits der Welt der Erscheinung zugeordnet und kann von daher nach platonischer Auffassung nicht Gegenstand wahrer Erkenntnis sein. Andrerseits ist in ihm auch das historische Geschehen einbegriffen, und hier erklärt Platon (Rep.382cd) im Sinne des Historikers, dass man über die παλαιά (alte Geschehnisse) nicht die Wahrheit wissen könne. Die παλαιά sind aber nach griechischer Vorstellung in den Mythen des heroischen Zeitalters niedergelegt. Platon stimmt mit dieser Vorstellung grundsätzlich überein, macht jedoch die Einschränkung, dass wir über diese längst vergangenen Zeiten nicht die Wahrheit auf dialektischem Wege erlangen können, dass also den Erzählungen davon, den Mythen, nur Wahrscheinlichkeitscharakter zukommen kann. Als Kriterien für die Wahrscheinlichkeit eines Mythos aber nimmt Platon nicht wie der Historiker konkrete τεκμήρια (Zeugnisse), sondern er geht hier von seinen Vorstellungen vom Vorbildcharakter der Heroen aus.

Was nun die Götter betrifft, so ist die menschliche Unfähigkeit, über sie das Wahre zu wissen, auf völlig andere Ursachen zurückzuführen: Sie sind unerkennbar, weder weil sie dem Bereich der Erscheinung angehören, noch auch weil sie in einer längst vergangenen Zeit existierten. In den griechischen Mythen aber werden die Götter, obwohl sie als αἰὲν όντες (immer seiend) betrachtet werden, durch ihre enge Verflechtung mit den Heroenschicksalen auch in eine gewisse Zeitlichkeit hereingezogen, und so führt Platon seine Kritik auch in Bezug auf Göttermythen durch, ohne sie prinzipiell abzulehnen. Nach seiner strengen Auffassung von den Göttern als absolut guten, ewigen, unveränderlichen Wesen wäre nämlich ein Mythos von Götterschicksalen nicht denkbar; vom rein philosophischen Standpunkt müsste man diese Konzessionen an altgriechische Traditionen als Inkonsequenz bezeichnen. Platon aber behält die tradierten Mythen bei, weil er ihnen einen hohen erzieherischen Wert zuschreibt, unter der Bedingung jedoch, dass sie vom Standpunkt seiner philosophischen Vorstellungen aus untersucht und neu geformt werden.

 

LITERATURVERZEICHNIS


Für eine ausführliche Bibliographie sei hier nur hingewiesen auf den Literaturbericht von H. Cherniss, Plato (1950-57), Lustrum 4, 1959,   p.5-308 und 5, 1960, p. 321-619, im letzteren Band vor allem auf den Abschnitt VI. Aesthetica, p. 520-554, außerdem auf die ausführliche Bibliographie bei P. Vicaire, Platon critique litteraire, p. 413-429.

o   J. Adam, H.A. Rees, The Republic of Plato, Cambridge 1963
o   J.W.Atkins, Literary criticism in antiquity, London  21952
o   P. Boyancé, Le culte des Muses chez les philosophes grecs, Paris 1937
o    E. Cassirer, Eidos und Eidolon, Vorträge d. Bibl. Warbg.,1922/23,3.1-27
o   G. Finsler, Platon und die aristotelische Poetik, Leipzig 1900
o   H. Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie,
    Berlin 1958
o   P. Friedländer, Platon, Bd. 1, Berlin 21954
o   H.G. Gadamer, Platon und die Dichter, Frankfurt 1934
o   K. Kerenyi, Unsterblichkeit und Apollonreligion. Zum Verständnis von Platons Phaidon, Die Antike, 1934
o   H. Kühn, The true tragedy, Harv. Stud. in Class. Philol. 52, 1941,
1-40, 53, 1942, 37-88
o   H. Leisegang, Platon, RE.XX.2, Sp. 2342-2537
o   R.C. Lodge, Plato’s theory of art, London 1953
o   R. Pfeiffer, History of classical scholarship, Oxford 1968
o   A. Pickard-Cambridge, The dramatic festivals of Athens, Oxford 1953
o   F. Stählin, Die Stellung der Poesie in der platonischen Philosophie, München 1901
o   J. Stenzel, Platon der Erzieher, mit einer Einf. von K. Gaiser,
     Hamburg 1961
o   D. Tarrant, Plato’s use of quotations and other illustrative material, CQ, 1951, 59-67
o   P. Vicaire, Platon critique littéraire, Paris 1960
o   Ders. Recherches sur les mots désignant la poésie et le poète dans l’œuvre de Platon, Paris 1964
o   U.v.Wilamowitz-Moellendorff, Platon I, 3.hrsg. v. B. Snell, Berlin 51959
o   E. Wind, θεος φόβος. Untersuchungen über die platonische Kunstphilosophie, Ztschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft, 26, 1932, 349-73
o   K. Ziegler, Tragoedia, RE, 2. Reihe, Bd. 6, Sp. 1899-2075


[1] Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, hrsg. von C.J. Gerhardt, 3.Band, Berlin 1887, S. 637
[2] Als Beispiele für diese Methode in unserer Zeit seien die Arbeiten von Rupert C. Lodge genannt, speziell zu unserem Thema: Plato's theory of art, London 1953
[3] Lysis, 214 a: οτοι γρ (ο ποιητα) μν σπερ πατρες τς σοφας εσν κα γεμνες..(denn die Dichter sind uns wie Väter der Weisheit und führen uns zu ihr)
[4] Als solche stellt sie Atkins, Literary criticism in antiquity, London 1934, Band 1, Seite 66, in den Vordergrund, er sieht in Platon "a pioneer in literary theory".
[5] G. Finsler, Platon und die aristotelische Poetik, Leipzig 1900, S.14f.
[6] Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 38. Stück
[7] Eine brauchbare Zusammenstellung des gesamten Materials ist schon in den umfangreichen Arbeiten von Paul Vicaire vorgelegt: Platon critique littéraire, Paris 1960; Recherches sur les mots désignant la poésie et le poète dans l'oeuvre de Platon, Paris 1964

[9]  Paus.I.30,2
[10]  U.a. bei Cicero, de div. I 36, als Voraussage, dass er “singulari suavitate orationis fore
[11] Ed. Westermann, S.9,Z.24ff
[12] Das Material ist gesammelt und ausgewertet bei P. Boyancé, Le culte des Muses chez les philosophes grecs, Paris 1937, S. 249 ff.
[13] Op.cit. S.260ff.
[14] Leisegang, Platon, RE, XX 2, Sp. 2344
[15] Einen Kult Platons bezeugt der oben erwähnte Bericht Senecas, ferner ein dem Aristoteles zugeschriebenes Epigramm an Eudemos, vgl. dazu Boyancé l.c. der auch darauf hinweist, dass Platon selbst in seinem Werk Anregungen zum Ritus einer Heroisierung gab (Rep. 468 e/Nom. 947ff.
[16]  Als Anregung in diese Richtung vgl. K. Kerenyi, Unsterblichkeit und Apollonreligion. Zum Verständnis von Platons Phaidon, Die Antike, 1934, S. 46 – 58

[17] Man kann hierbei sicherlich mit Recht an eine Stelle in Platons Politikos erinnern (309d), wo es heißt, dass der Politiker und der Gesetzgeber τ τς βασιλικς Μοσης (mit Hilfe der Muse der königlichen Kunst) die gegensätzlichen Charaktere im Staat miteinander verflechten könne. Wir werden später auf anderem Wege zu demselben Punkt gelangen.
[18] zitiert bei Diog. L VIII 57/Hose 65
[19] Vgl. P. Boyancé, op.cit. S.237
[20] Dieser Vorstellung entspricht auch die Etymologie: Μοσα < μο οσαι  (zugleich seiend) bei Plut., de fraterno amore 6 p 480 f.-
[21]  Die Annahme, dass der Gedanke der Abbildung, der Nachahmung (μίμησις)  schon in der pythagoreischen Theorie entwickelt war, vertritt J. Stenzel, Platon, der Erzieher, S. 33.
[22] Eine vollständige Sammlung und Einordnung des platonischen Gebrauchs der Wörter Μοσα, μουσικός, μουσική sowie ποιητής, ποιητικός, ποιητική gibt P. Vicaire, Recherches sur les mots désignant la poésie et le poète dans l'oeuvre de Platon, Paris 1964.

[23] Tὰς δὲ “Μούσας” τε καὶ ὅλως τὴν μουσικὴν ἀπὸ τοῦ μῶσθαι, ὡς ἔοικεν, καὶ τῆς ζητήσεώς τε καὶ φιλοσοφίας τὸ ὄνομα τοῦτο ἐπωνόμασεν (Die Musen aber und überhaupt die Musik hat er wohl offenbar vom Nachsinnen - μσθαι -, also von der Liebe zum Nachforschen und zur Weisheit so genannt..
[24] Vgl. z.B. Aristoph.Equ.188ff.
[25] Platon I3.S.595. Für Wilamowitz (vgl. auch S.355) hatte die Dialogform nach Phaidon und Symposion und schon in der Politeia ihre Berechtigung verloren; Platon hätte zur schlichten Form der Lehrschrift übergehen können, statt dessen beschränke er den Dialog "auf ein ganz dürres Gerippe von Frage und Antwort", im Anschluss an die zenonische Dialektik. Dies sagt Wilamowitz im Hinblick auf den Parmenides, "ein unerfreuliches, halbschlächtiges Ding". Wenn man jedoch die besondere didaktische Funktion des Dialogs im Spätwerk zu sehen gelernt hat, so wird man finden, dass auch diese Dialoge echte Gespräche sind und ebenso lebendig, vor allem aber auch ebenso berechtigt, wie die Frühdialoge in denen es vor allem um die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und falschen Gegenmeinungen ging. Dass hierbei "Schüler" wie Theaitet oder der jüngere Sokrates nicht so stark als Persönlichkeit ausgeprägt erscheinen wie früher die "Gegner", ein Kallikles oder Protagoras, liegt in der Natur der Sache.
[26] vgl. damit die in der epischen Sprache übliche Umschreibung von Zahlen
[27] Platon I2 S. 131
[28] Über diese verschiedenen Meinungen vgl. P.Vicaire, Platon critique littéraire, p.264
[29] Platon I3S, 93f.•
[30] Zu dieser Problematik vgl. P. Friedländer, Platon I, Kapi 5

[31] Vgl. dazu P.Friedländer, PlatonI, Kap.6, Sokrates bei Platon
[32] Einen Versuch in dieser Richtung, der allerdings noch viel zu wenig gibt, unternimmt Dorothy Tarrant, Plato's use of quotations and other illustrative material, CQ 1951, p. 59-67
[33] Besonders auffallend ist hier die Agathonrede im Symposion.
[34] Vgl. dazu, wie auch zur Beurteilung der ganzen Dialogstelle
H. Pfeiffer, History of classical scholarship, Oxford 1968, S.l6ff.
[35] Auch im 1.Buch des Staates (331 d) entnimmt Polemarchos einem Simonideszitat eine Definition der Gerechtigkeit, die im weiteren Gespräch ad absurdum geführt wird.
[36] Xenophon (Mem. 12,56 ff.) berichtet, dass man Sokrates auch anklagte, weil er die Dichter schlecht mache, indem er einzelne Stellen aus ihren Werken herausnehme und sie in verkehrter Weise deute. Die zwei Beispiele aus Hesiod und Homer zeigen uns, dass es sich um dieselbe Art der Behandlung von Dichterzitaten handelt, wie sie Platon hier praktiziert.
[37] Übersetzung von J.H.Voß
[38] Es ist übrigens bemerkenswert, dass Aristoteles im 8. Buch der Politik (l338a27ff.) aus derselben Stelle zitiert, wobei er jedoch die Betonung auf das Auftreten des Sängers legt, indem er Vers 7 und 8 zitiert.
[39] Ganz deutlich wird das ausgesprochen von Sokrates in der Apologie (22 b), wo er zu den Dichtern geht, um an ihnen das Orakel Apollons zu prüfen: διηρτων ν ατος τ λγοιεν, ν' μα τι κα μανθνοιμι παρ' ατν (fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen).
[40] Man könnte hier einwenden, dass ja nicht die Wächter, um deren Erziehung es geht, selbst μιμηταί (Schauspieler) sein müssen, sondern dass man für das Drama Sklaven und Fremde engagiert, wie Platon in den Nomoi (VII 81 6e) für die Komödie vorschlägt. Dagegen ist zu sagen, erstens, dass Platon es für unwürdig gehalten hätte, wenn schlechte Menschen vor den Wächtern vorbildliche Charaktere dargestellt hätten, zweitens, dass die Mimesis sich nicht auf Schauspieler und Dichter beschränkt, sondern auch auf den Zuschauer übergreift, der sich ja über den Schauspieler in die Personen der dramatischen Handlung einfühlt, als συμπάσχων (Mitleidender) (X 605d). Eine ähnliche Wirkungsreihe vom Dichter über den Vortragenden zum Publikum wird im Ion aufgestellt, wo Platon das Bild vom Magneten dazu anführt (533d ff.).
[41] Platon selbst führt eine solche systematische Auslese nicht durch; dies ist bezeichnend für die Frage der Realisation der Dichterkritik im Idealstaat und für den Charakter dieses Staates überhaupt. Wir werden uns mit diesem Problem noch zu beschäftigen haben.
[42] Zum Problem der Wahrheit in der Dichtung s.u. Kap. IV, 1
[43] H.G. Gadamer, Platon und die Dichter, Frankfurt 1934, S.28f. stellt den besonderen Charakter des Lobgedichtes und seine Beziehung zur Gemeinschaft einleuchtend dar. Damit steht für Platon aber auch der religiöse Aspekt in engem Zusammenhang. Die tiefere Ursache für die Hochschätzung der Lyrik, besonders des Chorliedes, ist jedoch noch eine andere, vgl. Kap.V.3.
[44] So hat es dann später jedenfalls der idealistische Klassizismus aufgefasst, vgl. dazu E. Cassirer, Eidos und Eidolon, Vorträge d. Bibl. Warburg, 1922/23
[45]Es sei hier schon vorweggenommen, dass das griechische καλόν sich mit dem hier in Frage kommenden "ästhetisch Schönen", das wir als wesentliche Qualität der Kunst ansehen, nach Inhalt und Umfang nicht deckt. Ohne nun eine endgültige Definition beider Begriffe zu versuchen, die ja, wie sich noch zeigen wird, von unserem Ansatzpunkt her gar nicht zu finden ist, soll hier die Problematik und die Verschiedenheit beider Begriffe in ihrer Funktion als grundlegendes Kriterium des Kunsturteils dargestellt werden.
[46] Die Frage nach der Echtheit dieses Dialogs kann hier übergangen werden, da für uns nur Gedanken wichtig werden, die in anderen Dialogen wiederkehren. Im übrigen sehe ich kein durchschlagendes Argument für die Athetese.
[47]  Topik I,102a5 / V,135a13
[48] Kap. II,2
[49]  Vgl. z.B. Apol.30e
[50]  Rep.377a
[51] Rep. X,605c φφ.
[52] Vgl. dazu die Maßstäbe für die Darstellung von Menschen, Rep. 392c.

[53] Die erstere wird durch die Auffassung des künstlerischen Schaffens im Zustand des Enthusiasmus weitgehend verdeckt. 
[54] Platon und die Dichter, S. 14 ff.

[55] Politikos, 301cd / Nom. 713c ff.
[56] op.cit. S. 14 ff.
[57] Nom. 656d ff. / 799a ff.
[58] Rep. 398a / Nom. VII,817a

[59] vgl. Nom. 670e
[60] Erziehen kann man nur zu einer τέχνη (Kunstfertigkeit) oder auch zu einer auf εμπειρία (Erfahrung) beruhenden Tätigkeit, nicht aber zur μανία (Ekstase), vgl.Phaidr.245a

[61] vgl. auch lat. „veri“simile und französ. „vrai“semblable
[62]  272e: οδ γρ ατ τ πραχθέντα δεν λέγειν ενίοτε, ἐὰν μ εκότως πεπραγμένα. (Denn bisweilen dürfe er das Geschehene gar nicht einmal sagen, wenn es nicht zugleich auch den Schein für sich hat). Man vergleiche damit einige  Gedanken des 9. Kapitels der Poetik, insbesondere den Satz 1451b30 τν γρ γενομένων νια οδν κωλύει τοιατα εναι οα ν εκς γενέσθαι...(denn von den Geschehenen hindert nichts, dass einiges so geartet ist, wie es wahrscheinlich auch geschehen könnte)
[63] s. Anm. im Anhang, auch zum folgenden
[64] ygl. auch Gorg. 524a, Sokrates über den Jenseitsmythos: τατ'στιν, Καλλίκλεις, γ κηκοώς πιστεύω ληθ εναι  (Das ist es, o Kallikles, was ich gehört habe und von dem ich glaube, dass es wahr ist.)- auch hier liegt nach Ansicht des Sokrates dem Mythos eine Realität zugrunde, die er in der πίστις  als ληθής annimmt. Ebenso fordert Sokrates am Εnde des Jenseitsmythos der Politeia (621c) die Haltung der πίστις als Grundlage für die Rettung des Menschen, κα μς ν σώσειεν ( μθος), ν πειθώμεθα ατ(und uns dürfte dieser Mythos auch retten, wenn wir ihn glauben.).
[65] Außer bei den Dichtern ist uns die Auffassung des Dichtens als Enthusiasmus auch für Demokrit bezeugt, vgl. frg. 17 und 18 Diels.
[66] Vgl. z.B. Sappho, fr.211  Page/ Pindar, 01. VII, 7
[67] Apol. 22c
[68] Dass hierin eine Ansicht Platons zu sehen sei, in dem Sinne, dass Platon in der mimetischen Dichtung keine göttliche Inspiration hätte anerkennen wollen, ist unwahrscheinlich, da man dann annehmen müsste, er habe vom 10. Buch der Politeia bis zum Phaidros seinen Standpunkt völlig ins Gegenteil gewendet. Es gibt Leute, die Platon eine solche Wankelmütigkeit zutrauen (E. Cassirer, Eidos und Eidolon, S. 23 nennt den Phaidros "eine Art Palinodie jenes Verwerfungsurteils"). Man kann nun zwar beobachten, dass Platon in vieler Hinsicht seine Ansichten ändert, aber doch nur jeweils in einer kontinuierlichen Entwicklung und nicht sprunghaft, wie man das manchmal für sein Verhältnis zur Dichtung annimmt, woraus man dann sogar auf starke Emotionen schließen will, die Platons Verhältnis zur Kunst bestimmten. Unser Problem ist jedoch durch die Betrachtung der platonischen Methode sehr einfach zu klären: Platon geht hier von der einen Voraussetzung aus - Kunst als Mimesis - und führt die Diskussion damit einseitig durch, um die Folgen, die sich aus dieser Voraussetzung ergeben, umso deutlicher hervortreten zu lassen. Das gleiche Verfahren wendet Platon an im Theaitet, wo durch die Eliminierung der Ideenlehre gezeigt wird, dass alle Versuche, das Wesen der επιστήμη (Wissenschaft) zu erkennen, ohne die Annahme von Ideen in die Aporie führen. Hier käme nun aber so leicht niemand auf den Gedanken, vom Theaitet zum Parmenides eine völlige Wandlung Platons in Bezug auf die Annahme von Ideen zu vermuten.
[69] so F. Stählin, Platons Stellung zur Poesie, S. 20-32 und nach ihm Atkins, op.cit. S. 49f.
[70] Vgl. den Gebrauch von μιμεσθαι im Homerischen Apollonhymnus, V.162f. Πάντων δ'νθρώπων φωνς κα κρεμβαλιαστύν / μιμεσθ'σασιν (Sie verstehen es, die Stimmen und Geräusche aller Menschen nachzuahmen)
[71] Dieses Problem wird im 9. Kap. der aristotelischen Poetik wieder aufgegriffen.
[72] zit. bei Arist. Rhet. 111,3, 1406b11. Aus späterer Zeit denkt man natürlich sofort an das berühmte Wort des Aristophanes von Byzanz über Menander: Μένανδρε κα βίε, πότερος ρ'μν πότερον πεμνήσατο (O Menander und Leben, wer von euch hat wen nachgeahmt?)
[73] Nom. II.668a
[74] Es ist ja bekannt, dass weder der neuzeitliche noch der antike Maler sich sklavisch an ein Modell bindet, sondern dass er z.B. auch aus mehreren Modellen in seiner Einbildungskraft ein Bild schafft, das keinem einzelnen der Modelle unmittelbar gleicht. Für die Antike berichtet und erläutert uns Cicero (de inv.II,1.) dieses Verfahren, das Zeuxis anwandte, als er in Kroton eine Helena malte.
[75] Diese Ansicht wird u.a. vertreten von Fr. Stählin(S.22), Finsler(S.56)
[76] Zu diesem Problem vgl. E. Cassirer, Bidos und Eidolon, dort auch weitere Literatur aus der Kunstgeschichte.
[77] Deutlicher als hier wird dieses Problem später im Sophistes ausgeführt, wo zwischen der εικαστική (ebenbildnerischen) und der φανταστική μίμησις (trugbildnerischen Nachahmung) unterschieden wird (235d.ff.).
[78] Mit τιμή (Ehre) ist hier die soziale Stellung in ihrer Zeit gemeint, denn dass die Dichter in späterer Zeit großen Ruhm genießen, kann Platon nicht leugnen, vgl. Symp. 209d, wo jedoch auch der Gesetzgeber über den Dichter gesetzt wird.
[79] πρξις bedeutet hier wie auch in der aristotelischen Poetik nicht nur das aktive Handeln, sondern auch das Geschehen.
[80] Hier ist der entscheidende Punkt, in dem Aristoteles von Platon abweicht, für ihn bewirkt eben die Erregung von Jammer und Schrecken durch Einfühlung in fremde Charaktere und Schicksale die Katharsis.
[81] Dass die Dichter, insbesondere Homer, eine starke Wirkung auf ihn selbst ausübten, zeigt die Äußerung zu Beginn der Auseinandersetzung (595b): καίτοι φιλία γέ τίς με καὶ αἰδὼς ἐκ παιδὸς ἔχουσα περὶ Ὁμήρου ἀποκωλύει λέγειν (wiewohl eine Liebe und Scheu, die ich von Kindheit an für den Homeros hege, mich hindern will zu reden., dann auch am Schluss (607c): σύνισμέν γε ἡμῖν αὐτοῖς κηλουμένοις ὑπ' αὐτῆς (da wir es uns bewußt sind, wie auch wir von ihr angezogen werden), und ferner auch der Vergleich des Verhältnisses zur Kunst mit einer Liebe, die man sich mit Gewalt aus dem Herzen reißen müsse, wenn man zur Überzeugung gelangt sei, dass sie nicht förderlich sein könne (607eff.)
[82] Einen Ansatz zu einer solchen Betrachtungsweise entwickelt Gadamer, Op. cit. S.17: „Sie (die 'Reinigung der Dichtung') will nicht zeigen, wie die Dichtung im wirklichen Staat aussehen müsste, sondern sie soll die staatbildenden Kräfte selber zeigen und wecken, auf denen alles staatliche Wesen beruht."
[83] Die Einteilung in vier Seinsbereiche, wie sie im 6.Buch am sog. Liniengleichnis durchgeführt wurde, wird hier durch Weglassen der Dianoia auf drei reduziert.
[84] s. Anm. 68, S.64f.
[85]  Rep. 603b: φαύλη ἄρα φαύλῳ συγγιγνομένη φαῦλα γεννᾷ ἡ μιμητική (Selbst also schlecht und mit Schlechtem sich verbindend erzeugt die Nachbildnerei auch Schlechtes.)
[86] Diese wichtige Einsicht liegt z.B. dem Rat zugrunde, den Platon Rep.IX,571e erteilt, man solle das επιθυμητικόν (Begierde) weder in der ένδεια (Mangel) noch in der πλησμονή (Fülle) halten.
[87] Das gleiche Verfahren wird dort angewandt, wo Dichtung (Tragödie) mit Rhetorik zusammengebracht und als δημηγορία (Rede vor dem Volk) ohne tieferes Wissen entlarvt wird, nämlich im Gorgias, 502cd.
[88] z.B. Phaidr. 252d
[89]  Dieses Werk ist beim Künstler nur ein εδωλον (Bild), vgl. hierzu die klare Gegenüberstellung zwischen Bild und wahrem Sein Symp.212a τίκτειν οκ εδωλα ρετς, ... λλ ληθ(nicht Abbilder der Tugend zu erzeugen …, sondern Wahres,.
[90]  s.o. S.66f.
[91] Dass hier an die Dichter und an alle, die sich unter dem Einfluss der Kunst einer αργία της διανοίας (Trägheit des Verstandes) hingeben, zu denken ist, kann vielleicht noch durch einen verbalen Vergleich mit Rep. 398e verdeutlicht werden, wo alle Tonarten abgelehnt werden, die αργία (Trägheit) und μαλακία (Schlaffheit) in den Hörern erzeugen könnten.
[92] H. Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, S. 126, geht in seiner Deutung wohl fehl, wenn er hier der Selbstvergessenheit des Dichters die Weltvergessenheit des Philosophen gegenübergestellt sieht; von einer solchen kann aber weder hier noch sonst bei Platon die Rede sein, falls man mit dem Begriff „Welt“ nicht die Vorstellungen verbindet, die in dem κόσμος des Johannesevangeliums enthalten sind.
[93] Vgl. Kap.I,2; die Bezeichnung der philosophischen Manía als ενθουσίασις (Begeisterung) begegnet im Phaidros schon 249e, und Begriffe aus diesem Umkreis finden sich an vielen Stellen, so z.B. Νom. 811c.
[94] Das Dichterische der Philosophie äußert sich in Platons Verständnis sicher in diesem lebendigen philosophischen Gespräch; der geschriebene Dialog ist nur eine Nachahmung dieses Gesprächs und als solche eine παιδιά (Spielerei), wie Platon es im Phaidros (276b ff.) und an anderen Stellen deutlich sagt. Über diese Aussagen Platons können wir uns einfach nicht hinwegsetzen, d.h. jedoch nicht, dass Platon in der Form von παιδιά nichts oder nur Nebensächliches von seiner Philosophie gibt, wie die Verfechter einer esoterischen "ungeschriebenen Lehre" annehmen.
[95] so z.B.Hipp.I, 295ab oder Prot.329a
[96] Symp. 174d ff. und in der Alkibiadesrede 220cd - selbst dieses Nachdenken erklärt Sokrates als einen Dialog der Seele mit sich selbst, Soph. 263e.
[97] Es sei hier wieder an das μνεν (preisen) als Kennzeichen des Musengesangs bei Hesiod erinnert, s.o.S. 12.
[98] s.o.S.14f.
[99] z.B. H.Kuhn, The true tragedy. On the relationship between greek tragedy and Plato, Harvard Studies in Class. Philol. 52,1941,1-40; 53,1942,37-88
[100] Einen Hinweis auf die Bedeutung dieser Betrachtungsweise in unserem Zusammenhang verdanke ich K. von Fritz, der in seiner Rezension zu A.Y.Gomme, More essays in Greek history and literature, Gnomon 55, 1963, S.330f. darauf aufmerksam macht, dass die Haltung des Verfassers der ps.-xenophontischen „Verfassung von Athen“ unsere Vorstellung von einer selbstverständlichen Anerkennung des attischen Dramas im Athen des 5.Jh. erschüttern müsste, und dass von daher auch auf die Stellung Platons zum Drama neues Licht fallen dürfte.
[101] Seine Komödie ist es hauptsächlich, die von der Kritik betroffen wäre, welche aus den Grundsätzen für die Beschränkung der Komödienfreiheit in den Nomoi (935d ff.) zu entnehmen ist.
[102] Darauf liegt auch eindeutig der Schwerpunkt in der Rechtfertigung seiner politischen Haltung im 7. Brief (3250
[103] Olympiodor, Vita Platonis
[104] Nom.698b ff.
[105] Vgl. P. Friedländer, Platon IS. 104f., der diese Zeugnisse jedoch allzu sehr abwertet.
[106] Hierbei wird ignoriert, dass in Athen die eigentliche soziale Unterschicht die große Zahl der Sklaven war, die die eigentlich „arbeitende“ Bevölkerung darstellte.
[107] Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese hier im einzelnen zu untersuchen, es sei dazu auf den Abschnitt bei P. Vicaire, Platon critique litteraire, p.77-192, verwiesen und auf die dort angegebenen Spezialuntersuchungen.
[108] Dass ein Mann wie Simonides hiervon auszunehmen ist, hängt mit der besonderen Nachwirkung des Dichters zusammen, die ihn bald in die Verwandtschaft zur Sophistik führte, vgl. Prot. 316d. Zu einer ähnlichen Beurteilung eines Dichters auf Grund seiner Nachwirkung s. folgende Anm.
[109] Rep.X,595b/607c. Diese Ablehnung ist nur im Zusammenhang zu sehen mit der Auffassung, dass im Homer schon die Tragödie angelegt sei, eine Vorstellung, die schon aus dem bekannten Ausspruch des Aischylos über Homer als Quelle der Tragiker spricht und die auch Aristoteles Poet. 4.1448bJ4ff. und an anderen Stellen, wo er bei der Behandlung der Tragödie auf Homer als das .Musterbeispiel verweist, zum Ausdruck bringt.
[110] Dabei sind natürlich lokale Unterschiede zu berücksichtigen. Dass uns diese soziale Abwertung des Künstlers hier bei den Griechen so ungewöhnlich erscheint, liegt vor allem daran, dass für uns - im Gegensatz zu andern Völkern, auch etwa zu Rom - für die ersten 4 Jh. griechischer Dichtung keine Gegenstimmen von Seiten der Gesellschaft gegen das Primat der Dichtung laut werden. Eine Attacke, wie sie Xenophanes und Heraklit gegen Homer u.a. richten, wird gemeinhin so geistig isoliert verstanden, dass man in ihr jeden gesellschaftlichen Bezug ignoriert. Diesem Vorurteil entspringt dann die Überraschung vor der Argumentation Platons; er greift nämlich diesen Bezug immer wieder auf, so z.B. wenn er Rep. X, 600c ff. das Verhältnis Homers zur Gesellschaft seiner Zeit darstellt.
[111] Nicht speziell zur Dichtung, aber zum von der Dichtung tradierten Mythos vgl. Euthyphro, 5e ff. Autorität gewannen die alten Dichter natürlich erst durch die lange Tradition.
[112] dazu den Kommentar von J. Adam zur Stelle.
[113] Schon im Politikos (303c) wird der Staatsmann als μιμητής bezeichnet.
[114] Poetik,1450b18/1462a11
[115] Die Bedeutung der schauspielerischen Leistung im attischen Drama zeigt sich in der gesonderten Siegerehrung der Protagonisten ab 449v. Chr., die Bedeutung des Schauspielers nahm im Laufe der Entwicklung im 4. Jh. noch erheblich zu, vgl. Ar. Rhet. 1403bJ3
[116] Vgl. K. Ziegler, Tragoedia, HE, 2. Reihe, (Bd.6sp. 1963-67)
[117] Obwohl ich mich hier nicht auf sichere Berechnungen stützen kann, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Ausgaben für Theateraufführungen im Verhältnis zum gesamten Sozialprodukt erheblich höher waren als bei uns heute.
[118] Der Bericht Platons über die Wirkung des Rhapsoden Ion lässt darauf schließen, dass sich auch die Rhapsoden schauspielerischer Mittel bedienten, die sicher vom Drama her beeinflusst waren (vgl. auch Ar. Poet.1462a6). Dieser Einfluss der Tragödie auf den Vortrag von Epen ist daher auch ein Motiv u.a., das Platon zur Ablehnung des Epos im Staat veranlasste.
[119] Vgl. A. Pickard-Cambridpe, The dramatic festivals of Athen
[120] Vgl. z.B. Livius, 7.2.12 über die Ehrenhaftigkeit der Atellanen (Schauspieler aus der oskischen Stadt Atella) im Gegensatz zu den histriones.

[121] Platon spricht immer vom „Lärm“ (θόρυβος), mit dem das Volk seine Meinung kundtut, Rep. 492b/ Nom. 659a/700c-e. Weiteres Material bietet hierzu Pickard-Cambridge, op.cit. p.98sqq.
[122] So begründet es Pickard-Cambridge, op.cit.p.100
[123] Wie weit außerdem die inhaltliche Bestimmung des Aretébegriffes von der Standesethik des altgriechischen Adels bestimmt ist, müsste in einer eigenen Untersuchung geklärt werden.
[124] Anspielung auf die in Athen übliche Vereidigung der Jury, vgl. dazu Pickard-Cambridge, op.cit. p.98
[125] ) wie es z.B. der oligarchische Verfasser der „Athenaion Politeia“ schon zu Beginn seiner Schrift tut, wobei natürlich die besondere Absicht des Autors zu berücksichtigen ist.
[126] Es sei hier nur auf die Reihe: Über eine nichtaristotelische Dramatik, 1933-41, hingewiesen (in der "Werkausgabe Edition Suhrkamp", Frankfurt a.M., 1967, auf die sich alle weiteren Angaben zu Brecht beziehen, ist dies Bd. 15, S. 229-336).
[127] s.o. S.55f.
[128] Bd. 15, S.268, Theater und Wissenschaft
[129] Ebenda, S.269f.
[130] Bd. 16,S. 663: "Seit jeher ist es das Geschäft des Theaters wie aller andern Künste auch, die Leute zu unterhalten. Dieses Geschäft verleiht ihm immer seine besondere Würde; es benötigt keinen andern Ausweis als den Spaß, diesen freilich unbedingt."