aus dem 20. Tagebuch
Athen,
Donnerstag, 4.Januar 1990
Ich fange ein neues Heft an: eine Nacht in tiefem Schlaf ohne Angst
vor Erschütterungen - dass das Erdbeben in der Zeitung stand (5 auf der Richterskala!)
beruhigte mich - und mit Ohropax ohne Störung, bis halb zehn. Der nette alte
Mann unten in der Rezeption, Herr Stilios, verschaffte mir noch ein Frühstück.
Ich wollte heute zum Kerameikos und zur Akademie - den Weg, den Cicero in
Anfang des 5. Buchs von <de finibus> beschreibt - aber es regnete – έβρεχε - ich nehme also den Schirm
und gehe zum Benaki-Museum.
Nur einige Räume sind offen. Alles steht eng beisammen: zwei Räume
Antike, vor allem Vasen der geometrischen Zeit, ein wunderbarer arabischer
Empfangsraum aus Ägypten, 17. Jahrhundert, Mosaikboden mit Brunnen, ganz
ornamental durchgestaltet, dann byzantinische Bilder des 15. und 16.
Jahrhunderts , darunter eine florentinische Madonna - sie fällt sofort auf
durch mehr Sinnlichkeit, auch wenn sie noch ganz gotisch geprägt ist (14.Jh.).
Die
verschiedenen Marientypen: die Thronende (Παναγία ενθρόνη), das Kind haltend (Βρεφοκρατούσα), die Säugende (Γαλκτοτροφούσα), die Unbefleckte (Αμόλυντος), die Wegweisende (Οδηγήτρια) und schließlich die zärtlich Küssende ( Γλυκοφιλούσα).
Etwas weiter das Kykladenmuseum, klein aber sehr schön angelegt, die
einzelnen Stücke sehr wirkungsvoll ausgestellt und ausführlich beschrieben, was
im Nationalmuseum nicht immer der Fall ist. Im oberen Stockwerk eine Synopsis
einiger Kykladenidole aus dem 3.Jahrtausend mit Werken von Brancusi,
Giacometti, Henri Laurens, Picasso.
Danach lief ich über den Syntagmaplatz (Parlament) durch die edle
Ermou-Straße zur Kapnikaréa, dieser wunderbaren Kirche mitten auf der Straße
aus dem 11.Jh., es regnete immer noch etwas - immer wieder diese kleinen
byzantinischen Kirchen inmitten moderner Hochhäuser, auf tieferem Niveau, aber
mit einem Mäuerchen abgegrenzt, ein echter τέμενος - innen eine Geschlossenheit der Architektur, zentraler Kuppelbau,
strahlt eine ruhige Wärme aus. Das beeindruckte mich schon in der Apostelkirche
auf der Agora (um 1000), wo nur die Architektur wirkt, an den Wänden sind nur
einige Fresken freigelegt, während die Kapnikaréa mit neuen Fresken und
Bildern überladen ist, ebenso wie in Αγιι Θεόδωροι am Κλαυθμώνος-Platz. Das ist sehr fremd, ein junger
Grieche küsste die beiden Ikonen - in der intimen Enge des Raumes wusste ich
nicht, wie ich mich dazu verhalten sollte.
Auf dem Rückweg - inzwischen kenne ich mich schon aus - ging ich durch
die Markthallen: ganze Fleischstraßen; die Leute wühlen in den Stücken als
wären es Kleiderkisten. Bei Hausreparaturen wäre hier, denke ich, leicht
einzukaufen, alles liegt offen da an der Straßen: Werkzeuge, Maschinen, Installations-Dichtungen
jeder Größe, Rohrteile, alles nicht verpackt, greifbar und übersichtlich.
Beim Busfahren fällt mir auf, dass jeder vorne einige Münzen,
vermutlich 40 Drachmen - das ist der Preis - in ein Kästchen wirft. Das tun sie
auch, wenn gar kein Fahrer da sitzt.
abends
Ich habe den Eindruck, dass ich keinen schlechten Spürsinn habe, wie
bei dem Kino vorgestern, so heute hier im Amphitheatro in der Adrianou-Straße.
Nach dem Publikum zu urteilen, sehr intellektuell, auch Kinder. Im Foyer hingen
Plakate von früheren Aufführungen: Aischylos, Eumeniden, Aristophanes, Frieden
und einige andere in verschiedenen europäischen Festivals: Berlin, Wien, Merida
öfter. Das Programm bringt den ganzen Text des Epos Digenhi Akrita, der großen
Sagengestalt aus dem 12.Jh. mit neugriechischen Erklärungen - auch in den
Museen schmunzele ich, wenn griechische Inschriften „übersetzt“ werden - ich
bin sehr gespannt.
- ich verstehe kaum etwas, nur was gezeigt wird, Aktion, Tanz, Musik,
Lieder und eindrucksvolles Sprechen. Ein großer breiter Raum; da ich in der
ersten Reihe sitze, sind meine Füße auf der Bühne und der ganze Raum ist voll.
Kurz vor Mitternacht komme ich nach Hause, endlich ins Warme. Auf dem
Rückweg war ich einen Moment verwirrt, als hätte ich mich verlaufen, aber da
merkte ich, dass ich am Klafthmonos-Platz war und an der Theodori-Kirche. Um
die Markthallen herum wurde gerade aufgeräumt.
Im zweiten Teil der Aufführung habe ich mehr verstanden, weil ich den
Text teilweise mitlas. Mit wie wenig Mitteln brachten diese paar Leute eine so
große Wirkung!
Morgen will ich zur Akropolis, ich hoffe, dass ich zeitig wach werde.
Heute war ein schöner Tag - vielleicht auch nur, weil ich gut geschlafen hatte.
Freitag,
5. Januar
Das
Wetter verschlimmert sich, heute Morgen regnete es nicht, es schneite; das die
Temperatur fiel unter null: Was soll ich anziehen? Was soll ich den ganzen Tag
in der Kälte machen? Als erstes kaufte ich draußen wollene Handschuhe.
-trotz allem bin ich heute Morgen
losgezogen zur Akropolis, wenn ich es in der windigen Kälte auch nicht
lange aushielt. Meine Vermutung, dass ich bei der Kälte allein wäre, stimmte
nicht ganz, vor allem im kleinen Akropolis-Museum war es manchmal sehr unruhig
- wie muss das hier im Sommer aussehen? Sehr schön fand ich die Koren,
besonders die Peplos-Kore und die wenigen Teile des Parthenonfrieses: eine
durchgehende fließende Bewegung im Ganzen und in einzelnen Gestalten,
Vorwärtsdrängen und Stehen ergeben einen spannungsvollen Rhythmus.
Ja, mit diesem Wetter ist es schwierig, darauf bin ich nicht
eingestellt, dass es tagelang so kalt ist. Wo soll ich hin, wenn Museen u.a.
geschlossen sind? Ich kann nicht jeden Abend ins Kino, Theater oder in eine
Taverne gehen, wo es dann manchmal auch nicht warm ist, im Theater gestern
saßen alle im Mantel. Ich könnte natürlich im Zimmer bleiben und lesen; ich
hätte viel da, aber auch hier ist nicht richtig geheizt und die Lampen geben
auf die Dauer zu wenig Licht - eben ging es plötzlich fast ganz aus, aber nur
für einen Moment.
abends
Wie ich in der Stadt sah, ist das wohl ein allgemeines Problem. Einige
Straßen waren dunkel, in einem Restaurant saßen die Leute im Kerzenlicht und
als ich in einem kalten Lokal saß, ein bzw. zwei Suflakia aß, nebenbei
Filmausschnitte von Charlie Chaplin sah, ging alles aus für eine Minute. Zwischendurch
kamen vier Jugendliche rein, versuchten andeutungsweise etwas zu singen,
vermutlich die „Drei Weisen“, die morgen an Epiphania erscheinen. Im Hotel
setzte ich mich ans Fernsehen, Nachrichten.
Aus zwei unbeholfenen Fragen meinerseits an einen beleibten Herrn, der
abends immer hier im Salon sitzt, ergab sich ein Gespräch, griechisch, englisch
deutsch. Er versuchte mir zu beweisen anhand von komplizierten Rechnungen, dass
die griechische Sprache ein mathematisches System beinhalte. Ein langes Gespräch,
in das dann noch ein Mann mittleren Alters, hager, etwas kränklich, einstieg
und dann auch ein Jugendlicher, der eigentlich den Film (amerikanisch, mit
Untertiteln) sehen wollte; immer wieder zog der beleibte Herr ihn ins Gespräch.
Wie schade, dass ich dabei kaum etwas verstehe - ich glaube nicht, dass ich das in der kurzen Zeit schaffe -
ich müsste mich mit einem griechischen Lehrer anfreunden, damit ich den
griechischen Geist kennenlerne, wenn ich es unterrichten will.
Epiphanie,
6. Januar
Der Himmel ist blau, zum
ersten Mal erscheint die Sonne; es wird richtig warm stellenweise. Ich
fuhr nach Daphní, diesem berühmten Kloster aus dem 11.Jh., an der furchtbar
hässlichen Straße, der „Heiligen Straße“ (Ιερά οδός), nach Eleusis, die Nationalstraße Nr. 8.
Das Kloster ist natürlich heute nicht geöffnet. Ich mache einen kurzen Spaziergang
durch einen Wald mit Pinien und Zypressen, Vögel und, wenn ich nicht irre,
einmal Zikaden, eine Ahnung von Frühling.
Mit dem Busfahren geht’s merkwürdig: eine Haltestelle ohne jede
Bezeichnung; ich steige in den nächsten Bus ein, fahre durch völlig unbekannte
Gegenden, bis ich mich allmählich auf dem Stadtplan zurechtfinde. Am Platz der
Freiheit Πλατεία ελευθερίας sitze ich in einem Lokal mit sehr armen
Leuten, aber es sieht nicht so aus, als würde ich irgendetwas zu trinken
bekommen.
Da ich schon mal in der Nähe war, ging ich zum Kerameikos, konnte
durch ein Loch im Drahtzaun den Eridanos fotografieren. Der Eingang war zu, „
weil ihr am Feiertag nichts bezahlt“ stand da. Ich fuhr dann quer durch das
nördliche Zentrum, um festzustellen, dass auch die Nationalgalerie zu war -
also heut nichts mehr, dabei lerne ich wenigstens das Bus- und Trollei-Fahren;
leider gibt es nicht so einen tollen Plan der Buslinien wie in Rom.
Gestern Abend hatte ich mir zum Feiertag zwei (!) Stücke Baklavás
gekauft, ich wunderte mich, als die nette Frau in dem Zacharoplasteio die
Stücke zweimal einwickelte – dann merkte ich: sie trieften von Honig, eins
davon reichte mir völlig als Mittagessen.
abends
Ich kaufte mir, weit draußen vom Zentrum, in der Odós Knóssou, eine
Karte und ein Programm (Text) von Sophokles‘ Antigone (neugriechisch), dann
spazierte ich durch die Straßen um viele Ecken. Da war in einem einfachen Haus
eine byzantinische Kapelle und etwas weiter entfernt hörte ich einen
merkwürdigen Lärm - eine Maschine? Nein, in zwei großen Kiefern an einem Platz
saßen Hunderte von Vögeln und hielten Versammlung, ein riesiges Palaver mitten
in der Stadt.
Nach einem Gyros mit Pita und einem Bier (Amstel!) gehe ich noch eine Stunde spazieren - diese Stadt
hört nie auf, es geht immer mal steil aufwärts in neue Viertel mit neuen
Aussichten. Über mir zwischen den Wolken der Mond, etwas mehr als halb, und ein
heller Stern, Jupiter oder Venus - ich kenne mich in den Himmelsrichtungen hier
noch nicht aus, es war ja die ganze Woche nichts zu sehen am Himmel - ich darf
auch nicht immer nach oben schauen, denn manchmal fehlen die Kanaldeckel - ein
Alptraum! - oder eine Kellertreppe geht mitten vom Gehweg in die Tiefe.
Wieder glaubte ich eine Zeit lang, mich verirrt zu haben, bis ich
wieder zu einem Platz kam, den ich vorher passiert hatte.
Ich sitze im Foyer, meine Erwartungen will ich möglichst herabsetzen.
Der Text, eine neugriechische Übersetzung, bringt nichts Neues. Die Leute, die
kommen - um zehn vor neun erst wenige, sind nicht so interessant, einige
Schüler und Schülerinnen, die Bilder deuten eher auf traditionelles Theater. …
- Das war eine traurige Geschichte, kein Trauerspiel, und schon gar
nicht eine antike Tragödie; die Gestalten wirkten eher peinlich, die Chorlieder
wurden wie im Gespräch gebracht. Jeder sagte sein Sprüchlein auf, mit sinnlosen
Bewegungen. Kreon war ein gutmütiger alter Mann - es war nichts; offenbar hatte
sich das schon rumgesprochen, denn auf der Bühne waren mehr Personen als im
Zuschauerraum - ti krima! Wie schade!
Sonntag, 7. Januar
Morgens, wenn ich aus den Träumen steige, befällt mich Unlust - ich
muss es klar zugeben: der Rhythmus der Stimmungen aber auch das Hiersein - die
Möglichkeiten, glücklich zu sein, sind gering. Sich fallen lassen? - nirgends,
keine Umarmung.
Ein Bus fährt alle Stunde nach Sunion, habe ich am Busbahnhof
erfahren. Vor dem Nationalmuseum saß ein Mann, vornübergebeugt, eine Wolldecke
über den Kopf gezogen - für ihn war Nacht.
In der Nationalgalerie - ein Riesenbau, modernst ausgestattet, aber
die meisten Abteilungen sind nicht zu sehen, nur einige Bilder und Skulpturen.
Interessant ist, dass in den Beschriftungen die Titel zuerst stehen, dann erst
die Künstlernamen.
Ich bin müde und fühle mich schwach, obwohl ich immer gut schlafe. -
Bewegung, dachte ich! Vom Nationalmuseum
war es nicht weit zum Likavittós, unser Bensheimer „Kirchberg“, allerdings
etwas imposanter und höher; durch einen Pinienwald ging es sehr steil aufwärts
zum Felsen mit der byzantinischen Kirche des hl. Georg. Eine Insel im
Häusermeer, das sich vom Süden, vom Meer und vom Hymettos rundum zwischen
Bergen und Meer ausbreitet; etwa vier Millionen Menschen.
Auf einem Bild eben in der Nationalgalerie vom Anfang des
19.Jahrhunderts wirkte Athen am Fuß der Akropolis wie eine Kleinstadt. Schade,
dass ich nie eine freie Sicht habe aufs Meer: Salamis, Ägina, vielleicht sogar
die Peloponnesische Küste!
Ich stieg in Richtung Nationalpark
(εθνικός κήπος) ab; vor dem Parlamentsgebäude
stolzierte ein aufgeplusterter Wachsoldat auf und ab, wie eine
Marionette; hinter dem Zaun allerdings Uniformierte mit Gewehr. Im
Nationalgarten war ein Tierpark und viele besondere Bäume - sinnigerweise
lebten die Wölfe gleich neben den Gänsen und Enten.
Neben dem Zappeion hörte ich es wie einen Bienenschwarm: da standen
einige Gruppen Männer; als ich näher herankam und zwischen ihnen hin und her
ging, hörte ich, dass sie eindringlich miteinander diskutierten, laut
gestikulierend. In einer Gruppe verstand ich, dass es um Kapitalismus und
Dritte Welt ging.
Zur Archäologie kam ich dann doch noch an diesem Tag: das Olympieion
war offen. Interessant war hier für mich vor allem der Grundriss eines Hauses
aus dem 4.Jahrhundert v.Chr.
Heute will ich endlich den Vetter
von Anwar El Bitar anrufen - darauf muss ich mich regelrecht,
schriftlich vorbereiten.
Kap
Sunion, 8.Jan.
Unbeschreiblich - ich sitze etwas windgeschützt hinter einem
Felsvorsprung, tief unter mir das Meer. Jetzt, wo der Sturm nachlässt, der sich
eben noch brausend in den Säulen des Poseidontempels hinter mir brach, höre ich
von unten das Rauschen der Brandung. Weit vor mir am Horizont eine Felseninsel,
davor zwei Schiffe. Ich bin fast allein, eben gingen noch einige Leute umher,
lange niemand, keine menschliche Spur, keine Begrenzung - nach langer Zeit eine
junge Frau, eine Belgierin, die ich bat, ein Foto mit mir zu machen.
Gestern Abend bei Muafok El Bitar mit Κοπέλα, namens Ρουφ, hatte ich im Weggehen gesagt,
dass ich hierher fahren wollte. Heute Morgen war dann ganz blauer Himmel, zum
ersten Mal hier - ich ging wieder ins Hotel zurück, um meine Sonnenbrille
auszukramen. Die Fahrt am Meer entlang, παραλία, war wunderbar,
73 km, gut zwei Stunden (für umgerechnet ca. 4DM!). Die Hänge der Hügel sind
zunächst zwar mit Ferienhäusern teilweise übersät, aber zurückhaltend. Heute
ist die Küstenstraße fast leer; man kann sich aber leicht vorstellen, was hier
im Sommer los ist -
- Als ich von Sunion wegfuhr, war ich traurig, der Mond war noch ganz
blass am Himmel erschienen, ich hätte noch da bleiben müssen, bis die Sonne
untergegangen und der Mond über dem Tempel gestanden hätte. Aber meine Augen
brannten schon und der Kopf schmerzte von dem stetigen kalten Sturmwind.
Ich fuhr durch das Landesinnere (μεσόγεια) über Laurion, karge Berggegend, aber ich
hielt die meiste Zeit vor Schmerz die Augen geschlossen und kam ins Träumen.
Abends sah ich „Cinema Paradiso“ von Giuseppe Tornatore, italienisch mit griechischen
Untertiteln - Sizilien: der Pfarrer zensiert alle Filme, lässt sie sich allein
vorführen, klingelt bei jeder Kussszene, der alte Neapolitaner muss sie
rausschneiden - er klebt sie zusammen und vererbt sie seinem jungen Freund und kinobegeisterten
Helfer, nachdem dieser ein berühmter Regisseur geworden ist.
Wenn ich nachts zum Lüften die Balkontür aufschiebe, scheint
mir der Mond auf die Füße, weil er sehr hoch steht.
9.Januar
Im Bus zum Piräus fiel mir ein, dass ich Proviant vergessen
hatte - da teilte eine ältere Frau einige Mandarinen mit mir. Sie saß einfach
da, schälte eine nach der andern und drückte mir, ohne ein Wort zu sagen,
zwischendurch immer ein Stückchen in die Hand. Wenn wir an einer Kirche vorbei
fahren, bekreuzigt sie sich.
Beim Aufstieg zum Kastella in Piräas kam ich ins Schwitzen,
mit meinen Kleidern und Gepäck, Fotoapparat und Büchertasche. Hier sitze ich im
Schatten eines Eukalyptus mit Blick auf die Bucht von Falira, in mittäglicher
Ruhe.
In den Straßen von Piräas wimmelt es von Schülergruppen, man
hört sie von weitem; offenbar ist gerade die Schule aus.
In einer Bäckerei kaufe ich eine Tirópita und esse sie dort.
Aus dem Radio singt eine weiche Frauenstimme El condor pasa, dann ein
griechisches Lied.
Ich zögere die Heimfahrt hinaus, weil ich denke, es ist das
letzte Mal hier, schlendere durch den Haupthafen mit den riesigen Schiffen - ob
ich nicht doch noch nach Aigina fahre? Im Hafen setze ich mich in die Sonne und
trinke einen Kaffee.
Im Bus muss ich mich hier nicht sehr strecken, um an die
Haltegriffe zu kommen, und unter den Vordächern der vielen Περίπτεροι, Kioske komme ich durch, ohne mich
zu bücken!
Ich sah einen Bus Piräa - Daphni und änderte meinen Plan und
fuhr auf gut Glück dorthin - ich hatte tatsächlich Glück, es ist offen. Ich
sitze im Klosterhof. Durch die hohe Mauer wird der schreckliche Lärm der
Nationalstraße gedämpft. Die Fahrt ging durch das ganze Industriegebiet von
Piräa, das allein schon eine Stadt mit doppelt so viel Einwohnern ist wie
Mannheim; ich benützte die Dreiviertelstunden-Fahrt zum Mittagsschlaf.
Auf der Suche nach Musik durchziehe ich Athen vom Lykavittos
bis zur Plaka, nachdem ich mir in Athinorama (Wochenpeogramm) einige
Musiklokale ausgesucht hatte. Schlimm ist, dass Musik immer mit Essen verbunden
ist, mit Trinken und Tanzen ja - aber essen brauche ich ja gar nicht. Nun sitze
ich im „Theóphilos“ am Ende der Plaka; eine alte Frau spricht französisch, es
sind zwei Stuben und die Küche, ganz gemütlich aber kalt - die Musik? Ein alter
Mann sitzt müde und traurig oder verdrossen in einer Ecke vor mir, ich traue
mich gar nicht richtig hinzuschauen. Er tut mir leid, auf einer Gitarre mit
Metallsaiten spielt er ein spanisches Lied, dann griechische Lieder, zwischendurch
lange Pausen. Das wird nichts heute Abend; ich wäre besser im Rembetiko Istoría
geblieben, in der Hippokratesstraße - nächstens vielleicht.
Um halb eins in der Nacht wurde in den Markthallen noch,
oder schon, gearbeitet, Straßenreinigung und Müllabfahr sind unterwegs. In der
Rinne glomm noch die Asche der letzten Feuer.
Mi.10.Jan.
Der Kerameikos, sehr schön beschrieben von D.Ohly - Münchner
Erinnerungen, er war mein Professor in Archäologie! - im Museum kleine, aber
sehr informative Vasensammlung, Grabfunde. Die Entwicklung vom 11.Jahrhundert -
noch weiche Dekoration, Wellenlinien, Kreise - über die geometrischen Vasen des
9./8.Jh, zu figürlichen Darstellungen der archaischen Zeit bis zum 4.Jh.:
Grabstein der Ampharete mit schöner Inschrift.
Ich versuche, die Straße zur Akademie zu gehen. Da sie nicht
auf dem Plan ist, muss ich vermuten: vom Kerameikos aus müsste es die Salamisstraße
und dann die Straße Platons sein, 1,6km, d.h. etwa eine Viertelstunde zu Fuß.
Die Straße ist eine Fußgängerstraße, neu angelegt. Es stehen da alte Häuser (19.Jh.),
die hoffentlich erhalten werden. An der ersten Ecke bleibe ich hängen, ein Café
in der Sonne, tragoudía.
Platons Akademie, ein schöner Platz um eine neubyzantinische
Kirche, Bolzplatz. Die Ausgrabungen liegen offen da, ohne jede Beschriftung,
weil ja auch kaum etwas zu sehen ist, außer einem Boden.
Zehn Minuten von dort bis zum Kolonos-Hügel, neu als Park
angelegt mit Kiefern und Zypressen - bevölkert von heimkehrenden Schülern und
Schülerinnen älteren Jahrgangs. Man trifft sich paarweise.
Auf einem anderen Hügel sehe ich eine byzantinische Kirche,
es ist die Kirche des hl. Milianos, 1953 erbaut, mit Bruchstein und die
Architekturformen mit Backstein.
Es wurde also doch noch drei Uhr, bis ich zurückkam - und es
ist zu schade, bei dem Wetter im Haus zu bleiben; also esse ich einige
Mandarinen, mache eine Viertelstunde Entspannung und beginne den
Nachmittagsbummel.
Jetzt ist es dunkel, die Beine tragen mich kaum noch, aber
nun war ich nach Einkauf - Nüsse, Bonbons, Kassetten, Buch - schon zum Bahnhof
in der Nähe der Agora gelaufen, vergeblich, weil das nur eine U-Bahnstation
ist, morgen will ich doch noch mit dem Zug nach Korinth fahren. Nun will ich
Athen doch auch mal im Mondschein sehen, deswegen steige ich zur Pnyx hinauf,
trinke unterwegs noch einen Kaffee, wenn ich schon müde bin. Bis ins Theater
werde ich es heute Abend ja noch schaffen. Ganz in der Nähe von Omonia, zwei
Stücke von Ritsos. Das Theater sieht innen ganz antik aus, richtig mit orchestra.
Nun sitze ich
in diesem Theater und habe ein schlimmes Gefühl und fürchte, dass die 120
Drachmen verloren sind - um 9.15 sind erst drei Zuschauer da - ich werde auch
kaum etwas verstehen. Es gibt kein Programm, mit dem ich mich etwas einlesen
könnte - nach der Anzeige draußen - und nach Athenorama müsste es zwei Stücke
von Jannis Ritsos geben -
Also nun wurde
doch nichts draus; um 20 nach 9 erklärte
eine Dame dem Publikum etwas, fragte mich, ob ich auch verstehe - nein - also auf
Französisch, sie könne nicht spielen, weil sie krank sei, wir sollten samstags
wieder kommen. Erst wollte ich schon lieber das Geld wiederhaben, aber dann kam
ich mit dem Regisseur ins Gespräch; er erzählte, dass er 1957 in Babenhausen
stationiert war, dass Darmstadt noch zum Teil zerstört gewesen sei. Dann suchte
er mir drei Kopien einer französischen Übersetzung der Stücke von Ritsos heraus
- nun muss ich ja wohl auch hin.
Mit meinem
Griechisch komme ich ja wirklich nicht weit, hier geht es französisch, vorhin
an der Bushaltestelle italienisch - mit einer jungen Frau aus Firenze.
Do,
11. Jan.
Ich wollte nach Korinth, mehr um die Landschaft zu sehen,
den Isthmos, das Meer. Auf dem Weg zum Bahnhof gab es in der Tsaldari-Straße
eine Kundgebung; aus den Transparenten entnehme ich, dass es um die Mechaniker
der Verkehrsbetriebe geht. Zum Bahnhof kam ich, als der Zug abfuhr; der nächste
fährt erst um 12 bzw. 1Uhr. Jetzt sitze ich im Dionysostheater. Die Orchestra
wirkt verhältnismäßig klein. Vor den Mauern der Akropolis muss eine gute
Akustik gewesen sein.
Das war ein hartes Stück eben, ich dachte, ich hätte Zeit,
wollte mit Bus zur Omonia fahren, weil ich noch Geld brauchte. Ich presste mich
in einen vollgestopften Trolley, am Syntagma war alles aus, ich geriet in
Panik; durch die Kundgebungen war der ganze Verkehr ins Stocken geraten - zum
Glück konnte ich bald aussteigen. Der Verkehr ist auch an normalen Tagen
furchtbar, die Abgase, wenn alle Straßen vollstehen, am schlimmsten, wenn
Straßen steil ansteigen, manche so steil, dass der Belag Querrillen hat, um das
Abrutschen zu verhindern; aber auch stehende Autos überall, auf allen Gehwegen.
Zu Fuß zu gehen, ist ein ständiger Slalom. Interessant ist, dass die Leute
meist gelassen bleiben, sie wirken nicht hektisch oder gestresst. Zum Bahnhof
kam ich zu Fuß; an der Bushaltestelle standen so viele, und auf dem ganzen Weg
kam auch kein Bus an mir vorbei - jetzt nach Korinth!
Korinth
Hier komme ich mir ganz verloren vor. Der Bahnhof ziemlich
außerhalb, keine Wegweiser, kein Kiosk; ich muss mehrmals fragen, bis ich zu
einem Platz komme, wo um vier ein Bus nach Akrokorinth fährt. Ich fahre doch
mal hin, obwohl sicher alles geschlossen sein wird - schön war der letzte Teil
der Zugfahrt. Von Athen bis Elefsina großes Industriegebiet, Ölraffinerien
u.a., dann das Meer, schließlich der Kanal, eine tief eingeschnittene Rinne.
Abend - ich gehe an Gärten mit Zitronen- und Orangebäumen
vorbei. Ein Schäfer treibt seine Herde ins Gehege - es ist sehr friedlich und
stimmungsvoll. Das Museum konnte ich noch kurz besichtigen und einen Blick über
die Ruinen der antiken Stadt werfen, aus römischer Zeit, nachdem das alte
Korinth von den Römern zerstört war. Auf den Berg von Akrokorinth mit der
byzantinisch-venezianischen Festung konnte ich nicht mehr; sie liegt auf einem
hohen Felsen, ich ging nur ein Stück den Abhang hinauf, ich wäre ganz in die
Dunkelheit gekommen.
Neu-Korinth, zehn Kilometer entfernt, am Meer, ist
schachbrettartig angelegt. Vom Platz, wo der Bus hält, gehe ich einen breiten
Boulevard zum Strand - wenig Verkehr, langsamer als in Athen, fast “normal”,
wenig Menschen. Am Hafen schaue ich auf den Kolpos Korinthiou. Über den Bergen
auf der anderen Seite des Isthmos geht rot der Vollmond auf. Das Wetter ändert
sich. - Eine Stunde noch, bis der Zug fährt. Ich gehe in ein Lokal, setze mich
an einen der großen runden Tische, die zum Kartenspielen gemacht sind; das Bier
wird auf kleine Beistelltische serviert. Der große Raum ist voller Männer, die
Karten spielen. Es ist sehr laut, einfache Männer und solche mit Schlips.
abends,
in Rembetika Istoría
Endlich einmal richtige Musik: ein Akkordeon, große und
kleine Bousouki (?), Gitarre, Gesang - getanzt wird nicht, das verstehe ich
nicht. Manche singen mit. Ich bin der einzige allein, sonst Gruppen, junge
Leute. Um elf Uhr fing die Gruppe an zu spielen, allmählich wird es voller -
ich lese nebenbei die Helena von Jannis Ritsos, in französischer Übersetzung -
es ist ein einziges langes Gedicht: “Les mots ne viennent plus d’eux-mêmes; je
les cherche comme si je traduisais d’une langue que je ne connais pas - ce qui
ne m’empêche pas de traduire. Entre
les mots ou dedans d’eux subsistent de grands trous profonds; je regarde par
ces trous...”
Um halb eins kommt ein Junge von etwa sieben Jahren und ein
etwas älteres Mädchen, um Blumen zu verkaufen. Von den Texten der Lieder
verstehe ich nur Fetzen, die Musiker spielen und singen ganz ungerührt. Die
Leute unterhalten sich. Einzelne tanzen, ein Mann immer wieder, eine Frau, mal
zwei - aber das ist mir nicht frei. Man müsste viel Platz haben und frei sein.
Mir fällt ein, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen
habe, außer ein Soublaki am Nachmittag in Korinth; ich bestelle einen Salat,
vielgestaltig wie eine Landschaft.
Freitag,
12 Ian.
Ich bin etwas schwach auf den Beinen und im Magen wie auch
im Kopf - die Musik hörte um drei auf. Eine halbe Stunde Fußweg durch die gelb
beleuchteten Straßen, nur einige Leute waren unterwegs, Taxis und Autos.
mittags
Eine gute halbe Stunde Fußweg von der Bushaltestelle durch
den weg durch den Dásos Kaisarianí, Kiefern
und Zypressen, ein Pfad schlängelt sich, teilweise sorgfältig mit
Steinen gesäumt über Felsen zwischen den Bäumen - so komme ich doch noch zu
einer halben Bergtour zum Hymettos - ob der Weg hinführt? Ja, doch! Endlich
sitze ich, ganz erschöpft, im Klosterhof. Einige Leute laufen in roten und
grünen Talaren herum, als würde eine Filmaufnahme vorbereitet - tatsächlich,
die ganze Kirche ist voller Geräte, Kabel, Lampen, Filmapparate. Ein
weißhaariger “Priester” singt (nach
Tonband), die Männer fallen vor Schreck zu Boden. Die Szene wird mehrfach
wiederholt. Dank Marlenes Erklärungen verstehe ich das natürlich viel besser,
mit der Klappe und so...
Ein wunderbarer Ort - mir fällt das Kloster Suso in
Kastilien ein, wenn man die Ausmaße vergleicht: hier alles kleine Räume, auch
die Kirche, sie ragt kaum über die Außenmauern. Dabei war dieses Kloster in der
Geschichte des Landes durchaus von vergleichbarer Bedeutung. Eben machen die
Filmleute Mittagspause.
Auf dem Rückweg komme ich am großen Friedhof vorbei; auch da muss ich hin, es ist gerade
eine Beerdigung. Nach dem Gesang des Popen drückt eine Frauenstimme mit großem
Geschrei die Trauer aus - genau kann ich nichts erkennen, weil ich Distanz
halte, obwohl die Leute nicht anders angezogen sind als ich. Die Gräber sind
meist mit Marmorrahmen gefasst, etwa einen halben Meter hoch, Kreuz, Name,
Alter, Todestag und ein Photo, oft in einer Vitrine. Manche Familien haben
ganze Häuser (Oikos) vom Naiskos-Typ.
Samstag
13.Jan., letzter Tag
Mit der bekannten „Schwere des letzten Tages“ gehe ich durch
die Stadt, kaufe noch Musik, fast mit dem letzten Geld - ich wundere mich
selbst über dieses Abschiedsgefühl, ähnlich wie damals in Rom - obwohl ich mich
hier nicht von einem Menschen verabschiede. Das Treffen mit Muafok El Bitar
gestern Abend fiel aus, ich weiß nicht warum. Als ich von Palaio Zografou
zurückkam, war es selbst fürs Kino zu spät, ich ging etwas frustriert schon um
elf Uhr ins Bett, las noch Arnulfs Hypatia
(wie es der in Athen ging!). Was tun mit dem letzten Tag - ohne sich
durch die Zeit hetzen zu lassen? Einmal noch ins Nationalmuseum. Vor dem Museum
stehen Leute mit Plakaten: 19 Wächter sollen entlassen werden, ich zögere, ob
ich aus Solidarität draußen bleiben sollte, aber dann ging ich doch rein. Nicht
um noch einmal alles zu sehen, nur einige besondere Werke noch einmal. Jetzt
sitze ich neben dem Poseidon vom Kap Artemision, zeitweise allein mit dem Gott,
sehe dann noch die Grabstele der Hegeso, das Relief der Eleusinischen Trias und
noch manches andere.
Um halb zwei mache ich mich noch einmal zu einer Wanderung
auf, in weitem Abstand um die Akropolis an den Hl. Asomatoi, Kosmas und
Damianos, vorbei, die immer verschlossen ist, durch die Pnyx - es ist eine
Ewigkeit her, seit ich damals am ersten Tag hier saß, frierend; jetzt sitze ich
auf dem Philopapposhügel in der Sonne, muss die Jacke ausziehen. Piräus liegt
in der Sonne, aber es ist dunstig. Salamis ist nur ganz schwach in Umrissen zu
erkennen.
Ich verließ den Lofos
Nymphon in östlicher Richtung, ging durch den Stadtteil Kynosargous, zwischen Olympieion und Friedhof hindurch.
Schöne Straßen, immer auch etwas bergauf, bergab, was auf dem Stadtplan ja
nicht zu erkennen ist. - dabei ergeben sich überraschende Durchblicke auf
entfernte Stadtteile, mal auch die Akropolis, einmal das Meer, die südliche
Küste bei Bouliagméni glaube ich. An der Platía Barnaba trinke ich einen Ellinikó
glikó - irgendwo muss ich meinen letzten Kugelschreiber verloren haben. Immer
weiter ging es, mal mit kleinen Parks, oft mit Bolzplätzen - dort spielen immer
nur die Jungen, Mädchen sieht man nie auf diesen Plätzen oder auch auf der
Straße spielen. Ich ging am Stadion vorbei, wo 1896 die erste neuzeitliche
Olympiade war, dann am Königspalast, jetzt Sitz des Staatspräsidenten, wie mir
ein Soldat erklärte, den ich fragte. Vor dem Eingang stolzierten wieder zwei
von diesen lächerlichen Marionetten - weiter, immer weiter durch den Nationalpark, am Zappeion vorbei, durch das Hadrianstor in
die Plaka. Ich wollte noch im Hellen zur Kirche des hl Johannes des Theologen.
Über dem Dionysostheater ging die Sonne unter. Ein Pope, den ich nach der
Kirche fragte, sagte, er sei auch nicht von hier, gab aber keine Ruhe, bis er
mich anhand von meinem Plan hingeführt hatte. Schließlich fand ich auch noch die
kleine Kirche Metamorphosis tou Sotiriou - über die Agora hin das letzte Foto.
Auf der Suche nach einem Klo stieg ich an der
Aiolou-Straße hinab in ein Kapheneíon: einen Kaffee gab es zwar, aber
kein Klo; also musste ich schnell nach Hause, kurz nach sechs war es.
Alors, c’est
fini, vers minuit, dans une crèperie à la place Plateía Amerikís, bien loin
de l'Omonia - qu’est-ce que je me ferai
de bien à la fin: une Crèpe Grand Marnier, après tout - im Theater Kaba, ich
kam um neun, ein zahlreiches Publikum diskutierte mit dem Regisseur. Um
halb sieben war Iphigenie gespielt
worden, schade, das hatte ich nicht gewusst. Gegen halb zehn wurde Orestis dann
endlich begonnen: zwei junge Männer auf der Bühne, in verschiedensten
Positionen, nur einer sprach, sehr viele Variationen des Sprechens, aber wenig
dramatisch, wenig kraftvoll. Ich möchte wissen, wie Jannis Ritsos sich das
vorgestellt hat, diese poetische Sprache. Ich denke, die Einzelheiten müssten
stärker herausgebracht werden. Dank der französischen Übersetzung verstand ich
manches.
…
Darmstadt,
im Café Bistrot, 20.1.90
Ich träume jede Nacht, schlafe nur noch fünf, sechs Stunden,
unruhig, gequält, immer wieder Aufwachen - von Athen träume ich, nicht von
blühenden Bäumen, hellem Marmor, Sonne, Kap Sunion ... nein! Immer enge dunkle
verwinkelte Räume, nächtliche Gassen, Kellergewölbe - ohne Ausgänge. Ich höre
und spreche griechisch. Wenn ich mich halbwach aufrichte, habe ich Mühe, den
Ort als unser Schlafzimmer zu erkennen.
31.1.90
im Bahnhofsrestaurant
Ich lebe wie ein Hund und merke es kaum - alles eingeteilt,
eine Arbeit nach der andern: 3 Klausuren, jetzt noch 6 Abiturthemen. Gestern
das erste Thema für den Leistungskurs Latein, Cicero, ausformuliert, heute Nachmittag
das zweite, Augustinus, dann Grundkurs Latein, dann Grundkurs
Gemeinschaftskunde. Zwischendurch notdürftig Unterrichtsvorbereitung. Bisher
ging’s leidlich; ich wollte früh nach Hause, aber der Zug war weg, so sitze ich
hier. Automatisch denkt es in mir: Aeneis, 6.Buch oder schon Cicero, de finibus
ausarbeiten. Ich merke, wie die Fäden des Spinnennetzes dünner werden, und ich
falle in ein Loch - ich halte inne -
fange an, mich von innen zu fühlen, den Raum abzutasten. Eine große
Müdigkeit und Leere - nichts will ich mehr - schlafen - fallen - versinken.
28.3.90
Allmählich weicht der Druck - ich bin über das Gebirge -
heute Nacht im Traum ein hoch mit Stroh beladener Wagen, der vor mir den Abhang hinunter in den
Abgrund stürzt. Abitur ist geschrieben, nicht ohne einen Haken zu hinterlassen,
seitens des Krypto-LK: Michael ist nicht angetreten, erst nach den Ferien. Jetzt noch eine Klausur bis Freitag, dann
erst einmal aufatmen - ich sehe ein helleres Land.