Liebe Hildegard
me
voilà à Paris, mais dans quel état! Warum muss heute so viel Hässliches, Aufreibendes zuerst kommen, bis
man erst mit dem Richtigen anfangen kann. Gestern habe ich von halb sechs nachmittags
bis elf in der Nacht die Stadt durchkreuzt (unterirdisch), um ein Bett zu
finden, von Pantin nach Montreuil, von da über den Gare de l’Est wieder nach
Boulogne, wo ich in einer Herberge an der Seine ein Bett fand. Ein Franzose,
den ich um Hilfe beim Telefonieren bat (!), suchte zufällig auch Unterkunft und
ging also mit. Heute Morgen war ich im Quartier Latin, um die Einschreibung
einzuleiten (hier keine Vorlesungen einfach, sondern immer mit Prüfung!
Furchtbar) Dann muss ich mich noch
polizeilich anmelden und dann natürlich Zimmer suchen.
Heute Mittag habe ich all diesen Kram fallen lassen, um einmal frei zu werden und die
Augen aufzumachen, endlich einmal ein Spaziergang von der Place de la République, Boulevard St. Martin, Bd.
de Sébastopol, enfin la rue de Tivoli, tu sais, où c’est? Maintenant je suis assis
dans le Jardin des Tuileries, je suis assis et je t’écris une lettre, ma chère Hildegarde,
aimée aussi en français.
Maintenant, où je me suis libéré des affaires,
j’ai un sentiment pareil à cet état d’âme, à Munich, quand j’attendais ta
visite; je ne serais pas étonné, si tu venais un moment ici vers ma table parmi
les arbres (Kastanien) jaunissants. Le ciel est bleu et l’automne est beau et
tu m’es proche.
Manchmal, wenn ich ganz mutlos zu werden drohe, denke ich, dass Du mich
gar nicht mehr achten würdest, wenn ich aufgäbe; dann halte ich eben durch, die
untere gegen die Oberlippe stemmend. So gehört es sich ja auch sonst, nicht
wahr, dass man durchhält, wo es schwierig ist, wenn man sich dadurch Schönes
erwirbt und selbst sich verwandelt. Und Schönes, denke ich, wird ja genügend
hier zu finden sein. An Galerien, Theater usw. denke ich im Anfang noch gar nicht,
ich muss mich zuerst einleben, heimisch werden. Du kannst Dir ja das alles,
diesen vielfach ganz elenden Anfang gar nicht vorstellen. Das Bewusstsein, dass
es ja jedes Mal so war und dass hinterher all das so unbedeutend und einfach
erscheint, hilft einem ja schon und dann auch die Disziplin, trotz aller Sorgen
sorglos und leicht einen Herbstnachmittag zu erleben, d.h. Mensch sein
Nachher spaziere ich hier noch weiter bis zur Place de la Concorde,
dann die Champs Élysées bis zur Place de l’Étoile, wo ich dann noch bei einem
Informationsbüro nach Hotels fragen werde. Vielleicht werde ich doch diese
Möglichkeit einige Zeit vorziehen. Morgen werde ich dann vielleicht an der
Seine entlang wandern die Île de la Cité ansehen. Willst Du mitgehen, Du? Aber
ja, Du warst ja auch schon hier überall und Deine Gestalt in dieser Umgebung
gar nicht so undenkbar. Und Du wirst ja wohl auch hier noch einmal für mich
leibhaft wirklich, nicht wahr Du. Aber jetzt, bei Deiner vielen Arbeit, denkst
Du auch manchmal an mich,
Deinen
Johannes?
P.S. ich habe noch keine Adresse und möchte doch gerne Post von Dir
haben – viel oder wenig, wie wir verabredet haben – wenn Du willst, schreib mir
doch bitte <Poste restante>, 5e arr. Bureau Central. Sobald
ich eine Adresse habe, schreib ich sie Dir.
Au revoir, oh toi!
* * *
Pour t’écrire, je me suis acheté de l’encre noire
ébène, pour t’écrire comme il faut !!
Guten Abend, Hildegard, oder auch guten Morgen (1 Uhr); ich hatte den
Brief noch nicht abgegeben, war zuerst am Accueil de France und jetzt wohne
ich: Paris, 6ème Arrondissement, 29, rue de Mazarine, Hôtel
des quatre nations.
Und das ist, wie ich von irgendwoher, vielleicht bloß aus meinem
Gefühl, weiß, mitten im Quartier Latin; jedenfalls ist in der Nähe die
Sorbonne, der Jardin du Luxembourg und dann auf der andern Seite sehr nahe die
Seine mit der Ile und Notre-Dame, die ich soeben auf meinem Abendspaziergang
sah, sehr starker Eindruck, teils natürlich durch die lange gestaute Erwartung,
vor allem aber durch ihre sehr schöne Gestalt; ich finde ihren Namen sehr
begreiflich, werde es Dir erklären.
Mein Zimmer ist von Grund auf hässlich, unwohnlich, und ich glaube,
daran werde ich nichts ändern können. Dazu ist nebenan eine Bar, wo männliche
und weibliche Chansonniers sich lautstark produzieren, mir also das Radio
ersetzen!!? Es kostet 8,50F, im Monat also etwa 200DM. Trotzdem werde ich es
fürs erste halten und mich hie und da nach Besserem umsehen. Es ist sehr
günstig gelegen. Und es ist immer schon ein Vorteil, überhaupt einmal ein
ständiges Zimmer zu haben, ich bin viel eher <zu Hause> hier – und
vielleicht kann ich morgen schon so weit sein, in den Louvre zu gehen, sicher
aber in Notre-Dame. Ach Du, ich möchte so gerne wissen, wie Du da bei allem
denkst oder möchte sehen, wie es Dich beeindruckt. Wenn ich unglücklich bin,
möchte ich, dass Du da bist, weil es dann verschwindet; wenn ich glücklich bin,
möchte ich auch, dass Du da bist, teilnimmst, um es zu vergrößern, Du, Du
Johannes
Jetzt ist es schon Mittag, bis ich abschicke, bald fängt schon ein
neuer Brief an. Deiner aber doch sicher auch.
Chère Johannes,
seulement
ce rien de français, parce que je pense, tu seras heureux d’entendre – mieux de
lire – un peu d’allemand. Lange
habe ich schon auf die erste Nachricht aus Paris von Dir gewartet. Jetzt
schreibe ich gleich, dass es Dir nicht ebenso geht. Ich habe oft an Dich
gedacht und denke auch jetzt, wie es Dir wohl geht, was Du tust, was Dir
geschieht, was Du erlebst. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer Dir dieser
Anfang geworden ist! Das Schwierigste ist jetzt vielleicht doch schon
überwunden. Es ist gut, dass Du ein Zimmer hast – für den Anfang – gleich wie.
Ich habe gleich auf dem Stadtplan nachgeschaut – eben als ich Deinen Brief
gelesen hatte – und die rue Mazarine gefunden. Ganz sicher ist es nicht, aber
sehr wahrscheinlich, dass ich vor zwei Jahren durch sie ging. Sicher findest Du
später einmal ein anderes Quartier, das Dich neben etwas mehr Ruhe auch
geldlich nicht so belastet.
Nun wirst Du Paris sehen, jetzt gegen drei Uhr Samstag Nachmittag, Durch
die langen Straßen gehen oder den Quai entlang unter den vielen Brücken her;
vielleicht wirst Du auch im Louvre sein oder - - Schreib mir ein wenig oder
viel, was Du tust, was Dir auffällt, was Dich berührt und was Dir besonders
gefällt, und warum.
Langsam und recht gleichmäßig gehen hier die Tage vorbei. Die Arbeit
lässt kaum anderes als sie selbst zu. Nur in den Rembrandt, den Klee und Deine Gedichte
habe ich ab und zu geschaut. Mein Geburtstag begann beim Morgenkaffee mit
Musik, Deiner Platte. Nachrichten habe ich – außer heute – noch jeden Tag
gehört, einmal auch eine Szene aus Kleists Amphitryon, es war wohl Schulfunk.
Dein Briefchen von zu Hause war schon Dienstagmorgen bei der Post. Habt ihr
viele Kartoffeln ausgemacht? Sicher haben sie sich bei Dir zu Hause über Deinen
Eifer gefreut.
Es ist noch immer schönes, trockenes Herbstwetter hier, aber die Sonne
kommt immer kürzer in den Mittagsstunden durch den Nebeldunst. Eben war ich im
Garten und habe einen üppig bunten Dahlienstrauß herauf getragen. Schwester
Theresia, der ich beim Herabgehen mit dem Buch unterm Arm begegnete, sagte, ich
solle viele Blumen nehmen, es würde jetzt doch bald kalt und dann gäbe es keine
Blumen mehr- Gerade läuten die Glocken: drei Uhr. Ich schaue hinüber zum
Fenster, die Zweige der Trauerweide, deren höchsten Äste ich sehe, sind voller
Vögel, wie sonst nur auf den Telefonstangen.
Johannes, weißt Du schon, welche Vorlesungen gehalten werden, was Du
belegen kannst, oder gibt es da etwa auch einen festgelegten Studienplan? Und
ihr beginnt schon am 15.? Wenn Du Prüfungen über die belegten Vorlesungen
machen musst, wirst Du nicht allzu viel belegen und regelmäßig hingehen. Kannst
Du auch etwas anderes als Griechisch und Latein belegen, vielleicht
französische Literatur oder Kunstgeschichte? Deine Gegend, gerade das Quartier
Latin, ist sicher schon voll von
Studenten und voller Ausländer. Warst Du schon auf dem Boulevard St. Michel? Sicher
bist Du auf dem Weg zur Île de la Cité hin oder zurück darüber gegangen.
Welchen Eindruck macht Paris als Stadt auf Dich, jetzt wo Du es über der Erde
sehen kannst? Meinst Du nicht, dass es eine sehr verschiedene Stadt ist von den
andern Städten, die Du kanntest?
Johannes, ich wäre so gerne mal ein bisschen bei Dir, so zwischen zwei
Absätzen Kirchengeschichte, der es immer noch sehr übel geht – oder in etwa
zwei Stunden, wenn ich eine Kaffeepause mache.
Nächstens mehr, lieber Johannes. Jetzt muss der Brief schnell weg – so durcheinander
und eilig hingeworfen er auch ist – vielleicht bekommst Du ihn dann schon
Montag, und ich habe Hoffnung auf einen weiteren von Dir. Ich wünsche Dir alles
Gute, dass Du Trauriges und Schönes, letztlich aber das Schöne siehst.
Deine
Hildegard
P.S. abends am 5. wurde mein Geburtstag mit etwas Wein (2l) bei mir
gefeiert. Zum ersten Mal waren alle bei mir. Ich freute mich sehr. Was sagten Deine
Eltern, als Du den Paris-Plan eröffnetest?